Im Mai dieses Jahres jährt sich zum zehnten
Mal die Verkündigung des Urteils, mit dem über die Klage von 249 Abgeordneten
des Deutschen Bundestages und der bayerischen Staatsregierung gegen das Schwangeren-
und Familienhilfe-Gesetz von 1992 entschieden worden ist. Einer der damaligen
Kläger, der frühere Bundestagsabgeordnete Claus Jäger aus Wangen
im Allgäu, gibt einen Überblick über die Auswirkungen dieses Urteils
und des auf seiner Grundlage erlassenen Schwangeren- und Familienhilfe-Änderungsgesetzes
von 1995, wie sie sich nach dem Ablauf von zehn Jahren darstellen.
Die Situation ist erschreckend: zwischen 250.000 und 300.000 ungeborene Kinder
werden in Deutschland jährlich in den neun Monaten vor der Geburt getötet.
Keine Seuche, keine Todesfall-Rate im Straßenverkehr, weder Krebs noch
Herzinfarkt dezimieren unsere Bevölkerung in auch nur annähernd gleichem
Maße wie die massenhafte vorsätzliche aber straflose Tötung
ungeborener Kinder durch Ärzte, die an diesen Tötungen auch noch gut
verdienen. Dennoch regt sich die breite Masse unserer Bevölkerung über
diesen "Holocaust der Ungeborenen" kaum noch auf. Würden auch
nur zehntausend Babies im Jahr Opfer irgend eines Giftstoffes oder von radioaktiven
Strahlungen aus einem Kernkraftwerk oder eines noch unbekannten Krankheitserregers,
die Aufregung in der Öffentlichkeit wäre riesengroß, man spräche
von einem unglaublichen Skandal und die Regierungen in Bund und Ländern
- gleichgültig von welcher Partei - säßen politisch auf der
Anklagebank, weil sie es versäumt hätten, rechtzeitig Vorkehrungen
gegen den Massentod von Babies zu treffen.
Gesetzliches Tötungsverfahren
Von alledem ist keine Rede, wenn es um die massenhafte Tötung ungeborener
Kinder durch häufig gewissenlose Ärzte geht. Wenn die Strafverfolgungsbehörden
einem solchen Arzt ausnahmsweise einmal auf die Schliche kommen und ihm den
Prozess machen, erhebt sich lautes Wehgeschrei in Presse, Rundfunk und Fernsehen,
wie sehr doch die böse Justiz menschenfreundliche Ärzte repressiv
behandle, die nichts anderes im Sinn gehabt hätten, als in Not geratenen
Frauen zu helfen. So geschehen im Memminger Abtreibungsprozess 1988, bei dem
man den angeklagten und wegen schrecklicher Tötungsdelikte auch verurteilten
Frauenarzt zum Helden und Märtyrer hochstilisiert hat.
Bis zur Wiedervereinigung gab es in Deutschland zweierlei Recht für ungeborene
Kinder: eine brutale Fristenregelung in der früheren DDR, die sogar als
Mittel der Familienplanung galt, und eine verwaschene, in der Praxis nicht durchführbare
Indikationen-Regelung in der alten Bundesrepublik; sie wirkte wie eine Fristenregelung,
weil sie von der Justiz -von Ausnahmen wie in Memmingen abgesehen - nicht mehr
angewandt wurde.
Mit Recht forderte daher Art. 31 des Einigungsvertrages zwischen der alten Bundesrepublik
und der DDR den Gesetzgeber auf, eine bessere und verfassungskonforme Regelung
zu schaffen. Bei dieser Aufgabe hat der Gesetzgeber, sprich: der Deutsche Bundestag,
kläglich versagt. Erbeschloss mit Mehrheit eine Fristenregelung, bei der
das Töten des Kindes innerhalb der Zwölf-Wochen-Frist für rechtmäßig
erklärt wurde. Dieser, dem Lebensrecht der Ungeborenen Hohn sprechenden
Bestimmung hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 28. Mai 1993
den Boden entzogen. Die Fristenregelung hat es leider bestehen lassen; folgerichtig
ist sie auch zum Inhalt der Strafbestimmungen des neuen Gesetzes geworden, das
am l. Januar 1996 in vollem Umfang in Kraft getreten ist. Das Bundesverfassungsgericht
hat also mit der einen Hand wieder weggenommen, was es mit der anderen gegeben
hat.
Die neue Fristenregelung hat in der Theorie eine ausführliche und für
die Erhaltung des ungeborenen Lebens eintretende Beratung als notwendige Voraussetzung.
Daher wird sie auch als Beratungs-Konzept bezeichnet. Die Wirklichkeit sieht
ganz anders aus. Es ist bekannt, dass manche Beratungsstellen - insbesondere
solche der Organisation "Pro Familia" - ihre Beratung zu einer reinen
Information darüber herabwürdigen, wie und wo am schnellsten ein Arzt
oder eine Klinik gefunden werden kann, bei der das unerwünschte Kind getötet
werden kann. Wenn man solche Beratungsstellen auf die Pflicht zur Beratung für
das Leben anspricht, wird einem entgegengehalten, dass das Gesetz (§ 5
Schwangerschaftskonfliktgesetz) eine "ergebnis-offene" Beratung vorschreibe.
Selbst in einem Land wie Baden-Württemberg, das lange Zeit von einer Alleinregierung
der CDU verwaltet wurde, ist es nie gelungen, diese üblen Praktiken abzustellen,
obwohl das Land Beratungsrichtlinien erlassen hatte, die weitgehend den Forderungen
entsprachen, die das Schwangerschaftskonfliktgesetz von 1995 angestellt hat.
Ist die Beratung erfolgt, muss eine Bescheinigung darüber an die Schwangere
ausgestellt werden. Auch wenn sie vielleicht nicht so gedacht ist, so wirkt
sie doch wie ein Todesurteil: mit dieser Bescheinigung ist der Nachweis der
Beratung erbracht und damit die einzige Voraussetzung für die Tötung
des ungeborenen Kindes außer der Einhaltung einer 12-Wochen-Frist durch
den abtreibenden Arzt und der drei Tage Überlegungsfrist durch die Schwangere.
Zwar verpflichtet das Gesetz den Arzt, die Schwangere über den bevorstehenden
Eingriff und seine Folgen genau zu unterrichten. Auch muss er ihr vom Abbruch
abraten, wenn dieser nicht medizinisch indiziert ist. Aber diese Vorschriften
sind keine Bedingung, die das Töten
strafbar machen, wenn sie verletzt werden und sind daher praktisch wirkungslos
geblieben. Insgesamt gesehen ist das angebliche Beratungskonzept nichts als
ein gewaltiges Tötungsverfahren, das vom Staat geregelt und gewährleistet
wird.
Behinderte Kinder sind durch einen Trick noch schutzloser gestellt als früher.
Nicht im Gesetzestext (das wollte man vermeiden) aber in der Gesetzesbegründung
wird die Behinderten-Indikation in die medizinische Indikation einbezogen. Also
keine Beratungspflicht und keine 22-Wochen-Frist mehr: bis zur Geburt können
solche Kinder abgetrieben werden. Hunderte sind das jetzt jedes Jahr. Die rot-grüne
Mehrheit des Bundestages tut entgegen dem Urteil auch hier nichts, um die schrecklichen
Spat-Abtreibungen zu unterbinden.
Mangelndes Wissen
Ob Fristentötung, ob indikationsbedingte Spat-Abtreibungen, auf alle Fälle
sind die ungeborenen Kinder nach geltendem Recht unrettbar einem Tötungsverfahren
ausgeliefert, das nur noch formale, leicht zu erfüllende Voraussetzungen
für das Töten enthält. Die Tötung erfolgt in den meisten
Fällen auf grausame und unmenschliche Art und Weise, nämlich durch
Zerfetzen im Mutterleib durch die sogenannte Curettage oder durch künstliche
Einleitung einer Frühgeburt, bei der das Kind, das lebens- und gebärensfähig
wäre, kurz vor der Geburt noch im Mutterleib getötet wird. Auch die
Vergiftung des Kindes im Mutterleib durch Einspritzen von Salzlösungen
kommt als Tötungsmethode vor. Kein Tier darf in Deutschland so grausam
getötet werden.
Wie ist es zu erklären, dass ein offenkundig schreiendes, in seinem Umfang
holocaustartiges Unrecht, das die Massentötungen darstellen, so tatenlos
hingenommen wird, wie das in Deutschland aber auch in vielen europäischen
Nachbarstaaten der Fall ist. Dafür gibt es im wesentlichen drei Gründe:
a) Der erste Grund ist die nicht überall verbreitete Erkenntnis, dass der
gezeugte Embryo von Anfang an Mensch ist, dass es sich um ein Kind handelt und
nicht um ein Stück Gewebe im mütterlichen Organismus. Wissenschaftlich
ist das eindeutig bewiesen. Der Bundesgesetzgeber hat diese Erkenntnis im Embryonenschutzgesetz
verankert. Aber bei vielen Menschen in unserem Land ist diese Erkenntnis noch
nicht in das persönliche Bewusstsein vorgedrungen. Noch immer tun auch
die Medien viel zu wenig, um diesen Wissensmangel auszugleichen. Sie sind zwar
durch die in diesem Punkt klaren Aussagen des Karlsruher Urteils zu aktiver
Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung verpflichtet. Bisher ist aber wenig
von einem ernsten Willen zur Durchführung des Urteils in der Praxis der
Medien spürbar.
b) Der zweite Grund liegt darin, dass das ungeborene Kind für das menschliche
Auge unsichtbar ist. Für seine Mutter ist es nach einer bestimmten Zeit
spürbar, aber für sie wie für alle anderen Menschen ist das kleine
heranwachsende Menschenkind nicht körperlich sichtbar. Eine wichtige Hemmschwelle
für die Zufügung von Unrecht, insbesondere das Töten, entfällt
damit.
Freilich macht die moderne Technik Abhilfe möglich. Mit dem Ultraschallbild
kann das ungeborene Kind heute mühe- und schmerzlos sichtbar gemacht werden.
Wäre es nicht angebracht, ja notwendig, dass die Ärzte verpflichtet
würden, der Mutter, aber auch dem Vater ihr Kind im Ultraschallbild zu
zeigen? Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass bereits eine solche
Vorschrift häufig das Töten des ungeborenen Kindes verhindern würde,
da es viele Mütter nach dem Anblick ihres Kindes nicht mehr übers
Herz bringen würden, es töten zu lassen.
c) Der dritte Grund schließlich liegt in der "argumentativen Unsichtbarkeit"
des Kindes, wenn über Schwangerschaftskonflikte diskutiert wird. Gewisse
Leute bringen es fertig, zwanzig Minuten lang über die Fragen zu reden,
ohne auch nur mit einem einzigen Wort den Hauptbetroffenen, das von Tötung
bedrohte Kind, zu erwähnen.
Stattdessen wird ausschließlich von der schwangeren Frau und von ihrer
Notlage gesprochen, ja von ihrem "Recht" auf Abbruch einer ungewollten
Schwangerschaft, so als ob es sich um die Entfernung der Mandeln oder des Blindarms
handle. In dieser Art zu diskutieren, liegt eine böse Unredlichkeit; man
versucht, sich um die Verantwortung zu drücken, in dem man das Opfer der
Tat unerwähnt lässt. Gesprächspartner, die es unschicklicher
Weise dennoch erwähnen, werden unter Hinweis auf die "political correctness"
zurückgewiesen; bleiben sie hartnäckig, werden sie als patriarchalisch
denkende Unterdrücker des weiblichen Geschlechts diffamiert. Diesen Diffamieren
kommt es gar nicht in den Sinn, dass die Hälfte der Abtreibungsopfer weiblichen
Geschlechts sind. Sicherlich kann ein Schwangerschaftskonflikt nicht ohne Auseinandersetzung
mit der Situation der jeweils betroffenen schwangeren Frau diskutiert werden.
Ebenso wenig darf jedoch das betroffene Kind ausgeklammert werden, zumal sogar
nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sein Lebensrecht in der Regel
Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren hat. Es gehört daher
zu den wichtigsten Aufgaben des Lebensschutzes, in der öffentlichen Diskussion
das Lebensrecht und die Situation des Kindes herauszustellen und so die Strategie
der "Unsichtbarmachung" des Kindes und Tötungsopfers zu durchkreuzen.
Zu den Scheinargumenten der Gegner jedes wirksamen Schutzes ungeborener Kinder
gehört es, die Unangemessenheit der Bestrafung von Frauen zu betonen, die
an der Tötung beteiligt waren. "Die sind bestraft genug" heißt
es oft, und in den meisten Fällen stimmt das sogar. Immer deutlicher wird
von Jahr zu Jahr, je weiter die psychologischen Erkenntnisse voranschreiten,
dass die Frau, die an der Tötung ihres ungeborenen Kindes mitgewirkt hat,
schwere bis schwerste psychische Schäden davon trägt. Oft belastet
eine solche Tötung die Frau bis ans Lebensende. Es erweist sich immer mehr
als plumper Betrug an der Frau, wenn man ihr einredet, sie könne mit der
Tötung ihres Kindes "ihr Problem lösen". In Wahrheit handelt
sie sich neue schwere und irreversible Probleme ein.
Unsinnige Parolen
Das Strafrecht trägt dieser Situation dadurch Rechnung, dass es in den
§§ 218 ff die Bestrafung der Frau deutlich milder ausgestaltet als
die des tötenden Arztes. Allerdings hat der Gesetzgeber durch die Einrichtung
eines staatlichen Tötungsverfahrens die Ärzte faktisch von jeder strafrechtlichen
Verantwortlichkeit freigestellt, wenn sie nur die paar einfachen Voraussetzungen
beachten. Dieses Tötungsverfahren versucht man mit der These zu verschleiern,
dass das Kind "nicht gegen seine Mutter sondern nur mit ihr geschützt
werden" könne. Ja, es ist sogar von der "Letzt-Entscheidung"
der schwangeren Frau die Rede. Wie unsinnig solche Parolen sind, ergibt sich
sofort, wenn man an die Stelle des ungeborenen Kindes z.B. die an den Rollstuhl
gefesselte pflegebedürftige Oma setzt. Kann auch ihr Leben nur mit ihren
pflegenden Angehörigen, nicht aber gegen sie geschützt werden? Gibt
es eine "Letzt-Entscheidung" pflegender Familienangehöriger über
das Leben der von ihnen abhängigen Pflegebedürftigen? Zum modernen
Menschenrechtsverständnis, das auch aus den grausigen Erfahrungen von Auschwitz
gespeist ist, gehört es, dass weder der Staat noch ein einzelner Mensch
oder eine Gruppe von Menschen ein Verfügungsrecht über das Leben eines
Menschen hat, auch dann nicht, wenn dieser Mensch das eigene Kind ist.
Konsequenzen
Mit dem gesetzlich verordneten Tötungsverfahren gegen ungeborene Kinder
hat der demokratische Rechtsstaat eine unheilvolle Mittäterschaft an den
massenhaften Kindertötungen übernommen, die sich verheerend auf das
Rechtsbewusstsein der Bürger auswirken muss. Wäre die Kirche aus diesem
Verfahren inzwischen nicht ausgestiegen, hätte auch sie sich diesen Vorwurf
zugezogen. "Der Staat tötet" - was ein Rechtswissenschaftler
vor über zehn Jahren vorhersagte, ist heute traurige Realität in Deutschland.
An ihr hat auch das zwiespältige Urteil aus Karlsruhe von vor zehn Jahren
nichts zu ändern vermocht. Im Gegenteil - es hat diese Realität gefestigt
und im Ergebnis gefördert. Wie zu befürchten war, hat das auf der
Grundlage des Bundesverfassungsgerichts-Urteils beschlossene Schwangeren- und
Familienhilfe-Änderungsgesetz (SFHÄndG) von 1995 nicht zu einer Reduzierung
der Abtreibungen geführt sondern zu einer ersten starken, später langsamen
oder deutlichen Zunahme der Abtreibungszahlen. Für diesen Fall hatte das
Karlsruher Urteil den Gesetzgeber verpflichtet, das Gesetz nachzubessern, um
einen "wirksamen" Schutz des Lebens der ungeborenen Kinder herbeizuführen.
Alle Versuche, die Bundesregierung zur Umsetzung dieses gerichtlichen Auftrags
zu bewegen, sind bis heute vergeblich gewesen. Auch die Appelle der katholischen
deutschen Bischöfe sind ungehört verhallt. Die Bundesregierung hat
sich offenbar mit der Realität von 1000 Schwangerschaftsabbrüchen
je Arbeitstag in Deutschland abgefunden, was in merkwürdigem Kontrast steht
zu der mit dem Schutz von Menschenleben begründeten Friedenspolitik des
Kanzlers. Leider haben sich auch die meisten Bürger mit dieser tödlichen
Realität abgefunden und reagieren mit Achselzucken, wenn die Rede auf die
Abtreibung und ihre mögliche Eindämmung kommt. Diese Gleichgültigkeit,
verbunden mit einer weitverbreiteten Ängstlichkeit, man könnte als
altmodisch oder gar als fundamentalistisch verschrien werden, ist der schlimmste
Feind der Menschen im embryonalen und im fetalen Lebensabschnitt. Sie steht
auch im Gegensatz zu der Aufforderung im Karlsruher Urteil, das Bewusstsein
der Bevölkerung von der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von
Anfang an zu fördern und zu stärken. Das Fazit ist traurig: 10 Jahre
Karlsruher Urteil sind im Endeffekt zehn verlorene Jahre in Bezug auf den Schutz
des menschlichen Lebens.
Quelle: PUR
- Magazin für Politik und Religion, Ausgabe 4/2003
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