3b) Die Relativierung der Realität
Am 11.09.2007 zeigte das ZDF eine Dokumentation über die Anschläge vom 11.09.2001 in den USA. Tags darauf gab dazu es in Spiegel–Online folgenden Kommentar zu lesen. Man erkennt schön, wie leicht der Mensch manipulierbar ist und wie schnell Wahrheiten und Tatsachen relativiert und in Frage gestellt werden.
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Anschläge vom 11.09.2001: ZDF lässt über Drahtzieher abstimmen
Es ist eben alles relativ. Drei Haare in der Suppe sind relativ viel, drei Haare auf dem Kopf relativ wenig. Aber selbst die ältesten Witze zur Relativitätstheorie, über die kein Jeck im Kölner Karneval mehr lachen kann, kommen einem wie kostbare Perlen des Humors vor, wenn man die gestrige ZDF-Dokumentation "11. September 2001 - was wirklich geschah" gesehen hat.
Gemessen an den wildesten Verschwörungstheorien, die seit 9/11 im Umlauf sind, zum Beispiel der, 4000 jüdische New Yorker seien am 11. September nicht zur Arbeit im WTC erschienen, war die ZDF-Doku relativ harmlos; geht man an eine Doku mit anderen Maßstäben ran, war sie relativ bösartig, irreführend und vor allem: eine Mogelpackung von der ersten bis zur letzten Minute. "ZDF-Recherchen erhärten Vorwurf gegen Behörden" konnte man auf der Homepage des ZDF lesen. Die Belege sollten von "namhaften Skeptikern, Experten und Augenzeugen der Anschläge" geliefert werden, dazu wurden "noch nie veröffentlichte Dokumente und Filmaufnahmen" angekündigt.
Vollmundiger hätte man an die Sache nicht rangehen können. Die "noch nie gezeigten Filmaufnahmen" waren ein paar Close-ups aus dem Technik-Bereich der Türme, die man ebenso gut im Heizungskeller des ZDF hätte machen können; bei den "namhaften Skeptikern" handelte es sich um die üblichen Verdächtigen, die im 9/11-Zirkus seit langem ihre Pirouetten drehen. Darunter ein ehemaliger Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Balingen, der unter Helmut Schmidt als Bundesminister für Forschung und Technologie diente und seit nunmehr 25 Jahren Enthüllungen über die Praktiken der Geheimdienste veröffentlicht.
Ein anderer kompetenter Fachmann war ein 23 Jahre junger US-Amerikaner, der mit Hilfe seines Laptops eine "Dokumentation" produziert hat, die im Internet millionenfach angeklickt wurde und demnächst in die Kinos kommen soll. Der Ausgewogenheit halber kamen auch ein paar Zeugen zu Wort, die an den Orten des Geschehens waren. Doch wurde beinah jede ihrer Aussagen mit den Statements der Skeptiker und Experten konterkariert und relativiert.
Wie es nach der Sendung weiter ging, kann man auf der Homepage des ZDF nachlesen. In einer "Online-Abstimmung" wurden die Zuschauer aufgefordert, die Frage nach den "Drahtziehern" der Anschläge von 9/11 zu beantworten. Je 25 Prozent gaben George W. Bush und die US-Behörden an, 15 Prozent nannten die Rüstungslobby, 27 Prozent stimmten für Osama Bin Laden, 9 Prozent hatten keine Meinung. Das bedeutet: Zwei von drei Zuschauern erlagen der suggestiven Wirkung der Verschwörungstheorie, obwohl die ganz am Ende der TV-Dokumentation zum Teil demontiert wurde. Von dem "Vorwurf gegen die Behörden" blieb nicht viel übrig, außer der inzwischen bekannten und auch von einem US-Kongress-Ausschuss dokumentierten Tatsache, dass der Sicherheitsapparat im Ernstfall versagt hatte und es hinterher nicht zugeben wollte.
Was die ZDF-Doku zu 9/11 zum Skandal macht, ist nicht der Umstand, dass sie Binsen recycelt und dabei so tut, als würde sie sensationelle Neuigkeiten präsentieren, das gehört auch bei den Öffentlich-Rechtlichen zur Grundausstattung, es ist die heitere Schamlosigkeit, mit der Tatsachen zur Disposition gestellt werden.
Freilich: Die Relativierung der Realität findet inzwischen täglich statt. Angefangen von der Familienpolitik der Nazis, die immer wieder neue Bewunderer findet, über die "kommode Diktatur", die in der DDR praktiziert wurde, bis zu den "Idealisten" von der RAF, die keine "gewöhnlichen Mörder" waren, weil sie sich nicht bereichern wollten. Und es gehört schon zur Routine, wenn bei Geiselnahmen und Morden zwischen "politischen" und "kriminellen" Motiven unterschieden wird.
Es gibt keine Wirklichkeit mehr, es gibt nur noch verschiedene Ansichten über die Wirklichkeit, basierend auf einem "allgemeinen Gefühlsmangel", den Hannah Arendt schon bei ihrem ersten "Besuch in Deutschland" im Jahre 1949 festgestellt hat. "Man fühlt sich erdrückt von einer um sich greifenden öffentlichen Dummheit, der man kein korrektes Urteil in den elementarsten Dingen zutrauen kann..."
Im Falle von 9/11 müsste am Anfang aller Verschwörungsüberlegungen die Frage stehen: Sind die Bekennervideos von Bin Laden und seinen Kumpanen ebenfalls von Bush in Auftrag gegeben worden? Wie schafft es eine Regierung, die nicht einmal einen kleinen Korruptionsskandal unter den Teppich kehren kann, 3000 eigene Bürger zu opfern, ohne dass auch nur einer der an der Verschwörung Beteiligten sein Schweigen bricht?
Die öffentliche Dummheit, der man kein Urteil in den elementarsten Dingen zutrauen kann, glaubt nicht nur daran, dass 9/11 von Bush und der Rüstungslobby inszeniert wurde, sie glaubt auch, dass die Mondlandung gefaket war, dass Lady Di ermordet wurde, dass Elvis noch lebt und dass die Titanic von Kapitän Nemo versenkt wurde...
Quelle: www.spiegel.de, vom 11.09.2007
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