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Die Psychotherapie entdeckt die Vergebung als Heilmittel gegen die Verbitterung

Der Mensch wird nicht allein von seinen Kindheitserfahrungen bestimmt. Bisher suchte die Psychotherapie die Schuld für psychische Störungen fast nur im Umfeld des Patienten. Neuerdings entdeckt sie jedoch: Auch der Patient kann zur Heilung beitragen. Er kann lernen zu vergeben. Interview mit Univ. Dz. Raphael Bonelli

Welchen Stellenwert hat Vergebung in der Psychotherapie?
Univ. Doz. Raphael Bonelli: Der Psychiater ist sehr häufig mit dem Thema konfrontiert. Allerdings wurde Schuld in der Psychotherapie jahrzehntelang meist nur pathologisiert. Man hat gesagt: Deine Schuldgefühle sind ein Zeichen von Krankheit, von Wahn, Einbildung, von Depression… Daher war man bemüht, dieses Gefühl irgendwie wegzubekommen. Zweifellos gibt es aber auch pathologische Schuldgefühle - etwa beim Skrupel.

Man hat sich also nicht mit eventuell bestehender Schuld, sondern nur mit den von ihr ausgelösten Gefühlen beschäftigt?
Bonelli: Richtig. Meist wurde versucht, diese Schuld irgendjemandem anderen zuzuschieben. Der Mensch selbst konnte nichts für das, was er getan hatte. Er sei eben schlecht von den Eltern behandelt oder von sonst jemandem traumatisiert worden, so die Meinung. Der leidende Mensch war eben ein Opfer. Viktor Frankl hat diese Sicht bereits etwas hinterfragt…

In welcher Form?
Bonelli: Indem er feststellte: Der Mensch hat Verantwortung. Einmal war Frankl in einem USHochsicherheitsgefängnis und hat den Häftlingen bei einer Begegnung mit ihnen gesagt: „Ihr seid schuld, daß ihr hier seid!“ - und hat damit standing ovations bei diesen geerntet. Jahrzehntelang hatten sie gehört, sie könnten eigentlich gar nichts dafür, daß sie auf die schiefe Bahn geraten seien. Sie seien Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse. Nur: Als Opfer äußerer Umstände hatten sie eigentlich keinen Spielraum, selbst etwas an ihrer Lage zu verändern. Man nahm ihnen die Freiheit. Wer sich nur in der Opferrolle sieht, kann nichts dazu beitragen, aus seiner Misere herauszukommen. Nur wer erkennt, daß er selbst etwas zu seiner derzeitigen Lage beigetragen hat, kann etwas ändern. Bei Ehekrisen erlebt man das oft: Beide Partner sehen sich als Opfer des anderen. Jeder meint, der andere müsse sich ändern - und keiner kommt auf die Idee, auch er könne etwas beitragen. Fragt man: „Und was haben Sie falsch gemacht, was könnten Sie ändern?“, erntet man aggressive Reaktionen. In dieser Frage sind wir in der Psychotherapie etwas in die Sackgasse geraten.

Wie findet man da heraus?
Bonelli: Man ist zur Erkenntnis gekommen, daß Vergebung eine wichtige Rolle spielt. Sie ist tief im Menschen verankert. Und es ist wichtig, vergeben zu lernen, weil jeder von uns dauernd an anderen schuldig wird. Nur sehen wir die Schuld der anderen klarer, die eigene jedoch kaum. Die einzig gute Art, mit dieser Tatsache umzugehen, ist, Kränkungen, die andere einem zugefügt haben, loszulassen - und sie sich nicht dauernd in Erinnerung zu rufen.

Bei der Vergebung handelt es sich um den Umgang mit der Schuld anderer mir gegenüber. Eingangs aber sprachen wir über den Umgang mit eigener Schuld. Wie hängt beides zusammen?
Bonelli: Bei Verletzung und Traumatisierung geht es um das Thema: Wie gehe ich mit der Schuld um, die andere mir gegenüber haben? Aber der Umgang mit dieser Schuld fällt jenen leichter, die sich bewußt machen: Auch ich habe dem anderen gegenüber Schuld. Letzteres wurde in der Vergangenheit weitgehend ausgeblendet. Daher war das Thema Vergebung schwer zu behandeln. Es ist aber für Patienten ein wichtiges Aha-Erlebnis, wenn sie merken: Auch bei mir war nicht alles in Ordnung. Wie oft kommen traumatisierte Patienten zu mir, die ihre Probleme aufarbeiten wollen. Frage ich sie dann: „Und woran sind Sie schuld?“, ist das für sie etwas ganz Neues. Sie sind so tief in der Opferrolle drinnen, daß sie nicht erkennen können, daß sie nicht perfekt gehandelt hätten. Was natürlich auch nicht immer heißt, daß jetzt wiederum das Opfer schuld ist.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Bonelli: Ein 30jähriger, extrem verbittert, kommt zu mir in die Ordination. Seine Mutter habe ihm Schlimmes angetan. Im Vergleich zu dem, was ich von anderen Patienten höre, war das gar nicht so arg. Auf die Frage, inwiefern denn er - immerhin hatte er vor zwei Jahren den Kontakt zur Mutter abgebrochen - mitschuld an der Misere sei, war er ganz konsterniert. Dieser Aspekt war ihm völlig neu. Hier setzt die Möglichkeit zur Vergebung ein. Wenn ich erkenne: Du hast mir eine Watschen gegeben, aber auch ich habe zurückgehaut, ich bin nicht nur das unschuldige Opferlamm, gewinne ich einen Freiraum für eine Änderung.

Das heißt: Wer imstande ist zu erkennen, daß auch er unrecht handelt, hat es leichter, dem anderen zu vergeben.
Bonelli: Genau. Diese Einsicht beseitigt die Schuld der anderen zwar nicht, stellt sie aber in die richtige Perspektive. Es ist eine Illusion zu glauben, man komme durchs Leben, ohne schuldig zu werden. Es ist Teil des Lebens, daß wir aneinander schuldig werden. Das Konzept: Ich bin so arm, weil meine Eltern alles in der Erziehung falsch gemacht haben, ist skurril. Eltern machen immer etwas falsch. Sie sind eben Menschen. Daher können die Fehler der Eltern nicht überall, wo in meinem Leben etwas falsch gelaufen ist, als Erklärung herhalten. Die Eltern geben nun einmal ein Paket von Plus und Minus mit. Aus diesem macht der Mensch dann etwas. Man darf nicht den Eindruck vermitteln, daß alles von Kindheitserfahrungen abhänge.

Gibt es aus der Sicht der Psychotherapie eine Folge von Schritten, die helfen, die Schuld anderer zu vergeben?
Bonelli: In den USA gibt es richtiggehende „Vergebungsschulen“, die bestimmte Schritte auf diesem Weg anbieten. Das ist übertrieben. Mir scheint, daß die Selbsterkenntnis am wichtigsten ist. Ich denke da an einen 55jährigen: Er kam zu mir wegen mehrerer Zwangsprobleme und Neurosen und erzählte zunächst, wer aller ihn traumatisiert habe: Eltern, Geschwister, die Ehefrau, die Kinder… In der dritten Stunde habe ich ihm dann den einfachen Satz gesagt: „Ich sehe sehr viel Unversöhnlichkeit in ihrem Leben…“ Er hat mir nachher erzählt, dies sei für ihn das Aha-Erlebnis schlechthin gewesen. Das Wort habe ihn zwar eine Woche lang in eine Krise gestürzt, weil er noch nie ins Auge gefaßt hatte, daß er unversöhnlich sein könne. Aber diese Einsicht half ihm dann bei der Aufarbeitung seiner Probleme. Dem Mann geht es jetzt blendend. Er hatte eine neue Dimension entdeckt: Ich kann aktiv etwas tun, nämlich vergeben. Und das machte es ihm möglich, wieder auf die Menschen zuzugehen. Etwa auf seine Schwester, die vor Jahren in einem Nebensatz eine seiner Aktionen kritisiert hatte. 20 Jahre lang war er daraufhin beleidigt! Ein Nebensatz! Eine solche Haltung ist eine unglaubliche Last, eine wahre Gefangenschaft. Man muß sich dauernd an Negatives erinnern.

Unglaublich, daß etwas, was von außen gesehen als Lappalie erscheint, so schwerwiegende Folgen haben kann.
Bonelli: Damit sind wir beim Thema Verletzlichkeit. Bei vielen Patienten beobachte ich eine große Verletzlichkeit. Sie halten die vielen Ecken, Kanten, Reibereien, die im Alltagsleben ganz normal auftreten, nicht aus. Diese Verletzlichkeit hat viel mit dem zu tun, was Sigmund Freud als „narzisstische Kränkung“ beschrieben hat. Der Narzisst hat ein brüchiges Selbstwertgefühl. Sein Anspruch, der Allerbeste zu sein, ist dabei aber extrem abhängig davon, daß man ihn in dieser Sicht bestätigt. Kaum wird das nur geringfügig infragegestellt, gerät er in die Krise. Solange der Narzisst alles im Griff hat, ist er der netteste Mensch. Aber wehe es läuft nicht so…

… eigentlich eine enorme Außenabhängigkeit.
Bonelli: Ja. Daher die große Verletzlichkeit. Das Idealbild, das solche Menschen von sich haben, weicht enorm von der Realität ab. Sie leben in der ständigen Lebenslüge, sie seien super - was aber den Tatsachen nicht entspricht. Dieses Auseinanderklaffen ist ein großer Streß. Je ähnlicher das Idealbild der Wirklichkeit ist, umso weniger ist man verletzlich. Das stabilste Gleichgewicht haben jene, die wissen, daß sie Kinder Gottes, in Gott geborgen sind. Deswegen kommt man in der Wissenschaft immer mehr darauf, daß richtig gelebte Religiosität wesentlich zu psychischer Stabilität beiträgt. Wer weiß, daß er von Gott geliebt ist, verkraftet es auch, daß ihm einmal jemand sagt, er sei ein Depp.

Gibt es Untersuchungen zum Thema Religiosität?
Bonelli: Eine israelische Studie ist da erwähnenswert. Sie kam zu dem Ergebnis, daß die Fähigkeit mit Traumata umzugehen umso besser ist, je größer die Religiosität. Man hat Bürger an drei Orten des Landes untersucht: einem hochreligiösen, einem nichtreligiösen und einem gemischten. Die am meisten traumatisierten Menschen traf man im unreligiösen Tel Aviv an, wo außerdem die wenigsten Ursachen für Traumatisierung gegeben waren, und die geringste Anfälligkeit im Gaza-Streifen, wo es die größte Belastung gab. In den Gebieten dazwischen waren die am stärksten Traumatisierten die Nichtreligiösen. Die Schutzwirkung des Glaubens erkennt man auch bei der Selbstmordanfälligkeit. Sie ist bei Gläubigen sehr weit unterdurchschnittlich. Es ist eine der Weisheitsfragen der Menschheit: Wie geht man mit Ungerechtigkeit um? Auch da hat der religiöse Mensch einen Vorteil, weil Jesus Christus ungerecht ans Kreuz geschlagen worden ist. Ebenso die Märtyrer. Wir verehren diese Menschen. Auf diesem Hintergrund kann der Christ leichter mit Ungerechtigkeit umgehen.

Die Psychiatrie hat so Selbstverständliches nicht in ihre Überlegungen einbezogen?
Bonelli: Jahrzehntelang nicht. Jetzt beginnt sich das zu ändern. Besonders in den USA gibt es sehr viele Studien über Religiosität. Und ein Buch über „Forgiveness“ zeigt in vielen Studien, daß die Vergebungsbereitschaft das Leben enorm erleichtert.

Entsteht diese Verletzlichkeit durch mangelnde Liebeserfahrung?
Bonelli: Das ist ein altes Dogma in der Psychologie, das ich differenziert sehe. Sicher: Wir leben in Beziehungen und brauchen daher Zuwendung, Liebe. Aber es gibt auch das verzärtelte Kind, das sich aus dieser Verzärtelung heraus zum Narzissten entwickelt. Die Liebe braucht daher eine gewisse Ordnung, sie muß fordern und Grenzen setzen können. Es geht auch um Anleitung zu den Tugenden. Aber wie ich schon sagte: Die Geborgenheit in Gott beinhaltet ja das Bewußtsein, geliebt zu werden. Man darf übrigens die Erwartungen an die menschliche Liebe nicht überziehen, weil es da notwendigerweise zu Enttäuschungen kommt. Das Schema: Man darf nur loben, niemals schimpfen, begrenzen… hat lange Zeit die Psychologie geprägt. Es hat zur Entstehung ichbezogener Menschen beigetragen. Das war ein falscher Weg. Es gibt nun einmal die Erbsünde. Und daher muß der Mensch mit seinen Grenzen konfrontiert werden.

Ist, vergeben zu können, nicht auch ein Geschenk Gottes?
Bonelli: Ja. Da ist immer auch Gnade im Spiel. Wenn wir die Dinge aber rein wissenschaftlich betrachten, können wir zwei Dimensionen unterscheiden: die auf Entscheidung beruhende und die emotionale Vergebung. Die Entscheidung zur Vergebungsbereitschaft ist ein erster Schritt. Da spielt allerdings oft das Herz noch nicht mit. Der erste Schritt muß von der Person selber kommen. Beim zweiten kann die Gnade entscheidend mitwirken. Und noch etwas: Die Zeit heilt Wunden. Wenn man sie nicht ständig selber aufreißt.

Zum ersten Schritt, zur Einsicht, kann die Psychotherapie verhelfen. Hilft sie auch beim zweiten?
Bonelli: Ja. Sie kann helfen, Empathie gegenüber dem Schuldigen aufzubauen, seine Motive besser zu erfassen. Michael Linden wendet die „Weisheitstherapie“ bei Fällen von „Verbitterungsstörungen“ - die er beschrieben hat - an. Eine seiner Techniken ist der Perspektivenwechsel: Der Patient wird eingeladen, einen konstruierten, unlösbaren Konflikt aus der Perspektive aller Beteiligten zu betrachten. Dabei erkennt er die unterschiedlichen Sichtweisen, mit denen man an ein und dasselbe Problem herangehen kann. Und das verhilft ihm dazu, aus der Starrheit seiner Sichtweise, die mit der Unfähigkeit zu vergeben verbunden ist, herauszufinden.

Was kann der Laie aus diesen Überlegungen lernen?

Bonelli: Daß die Unversöhnlichkeit immer ein Unglück ist. Die Welt ist nun einmal voll Ungerechtigkeit und es kann sinnvoll sein, Vergangenes nicht aufzuwühlen, Ungerechtigkeit zu ertragen und den Weg weiterzugehen. Das wäre der Dienst von guten Freunden: nicht im Mitleid zu zerfließen und alles zu bestätigen, worüber der Leidende klagt, sondern zum Weitermachen zu ermutigen.

 



Quelle: www.vision2000.at, Ausgabe 5/2009


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