Ich habe nie einen Hehl aus meinem Glauben gemacht
Der ‚Spiegel'-Journalist Matthias Matussek ist deklariert katholisch.
Aufsehen erregte seine Titelgeschichte in diesem Jahr über die Sünde.
Ein Interview der evangelischen Nachrichtenagentur idea von Karsten Huhn.
Berlin (kath.net/idea) idea: Herr Matussek, was ist in
Sie gefahren? Jetzt halten Sie schon Predigten über den Satan - und das
im "Spiegel",
dem Zentralorgan der Gotteszweifler!
Matussek: Diese Titelgeschichte
war ein Auftrag der Chefredaktion! Ich hoffe, dass ich in dem Artikel klargemacht
habe, dass ich nicht von einer erhöhten
Warte auf das sündige Treiben der Moderne schaue. Wenn ich über
Sünde schreibe, dann schreibe ich nicht über einen fernen Kontinent.
Ich bin damit - Gott sei es geklagt - sehr vertraut.
Wie kommt die Chefredaktion des "Spiegel" dazu, eine Titelgeschichte über
die Sünde in Auftrag zu geben?
Das habe ich mich auch gefragt! Der Titel
war jedenfalls einer der bestverkauften des Jahres 2010. Auch "Spiegel"-Leser sind offensichtlich auf religiöse
Themen ansprechbar. Sonst kommt Religion bei uns ja meist nur als Gegenstand
von Enthüllungen vor …
… Journalisten pinkeln eben gerne mal gegen den Dom …
… und "Spiegel"-Redakteure pinkeln im Zweifelsfall zweimal
dagegen. Der "Spiegel" ist seit seiner Gründung durch Rudolf
Augstein kirchenkritisch. Allerdings war ich überrascht, wie sehr die
Redaktion am langsamen Sterben von Papst Johannes Paul II. Anteil nahm. Auch
später, als Joseph
Ratzinger zum "Wir sind Papst" gewählt wurde, galt Katholischsein
plötzlich gar nicht mehr als so uncool.
In einem in dieser Zeit entstandenen Artikel schreiben Sie allerdings: "Die
Welt ist nach dem Fall des gottlosen Kommunismus nicht zum Heil erwacht,
sondern ziemlich geschlossen zum gottlosen Kapitalismus übergelaufen.
Die Moderne - ein fast übermächtiger Feind für Glauben und
Heil."
So hat es Johannes Paul II. damals empfunden und so empfinde ich
es auch. Es gibt heute einen neuen Totalitarismus, den der Konsumgesellschaft.
Über das Böse, die Sünde, wird kaum noch öffentlich
gesprochen - so die Erkenntnis Ihrer "Spiegel"-Geschichte. Sie
schreiben weiter: "Sünde ist Vertrauensbruch. Gott versteht in
diesem Punkt keinen Spaß."
Wir leben in einer Zeit der Auflösung moralischer Kategorien. Fast
jede Art von Fehltritt trifft auf grenzenloses Verständnis. Aber wir
müssen uns klarmachen, dass Sünde mehr ist als ein Nasch-Verstoß gegen
ein Diätgebot. Wenn wir lügen oder fremdgehen, versündigen
wir uns nicht nur an uns selbst oder an unseren Mitmenschen, sondern auch
an unserem Schöpfer, der uns ja anders gemeint hat.
Sie klingen wie ein Evangelist!
Ach ja? Das ist ja schrecklich!
Es kommt drauf an, welches Bild Sie von einem Evangelisten haben.
Papst Benedikt XVI. versteht sich vermutlich auch als Evangelist, also
als Verkündiger
der frohen Botschaft.
Wenn es darum geht, über den christlichen Glauben zu sprechen, ist
der Papst tatsächlich der führende Kopf. In Europa fällt es
vielen äußerst schwer, über den Glauben zu reden - in anderen
Kulturkreisen ist das überhaupt kein Problem.
Über den Glauben zu reden, ist ebenso intim wie über Sex.
Es fehlt
uns die Sprache dafür, es klingt so uncool. Wenn ich über
das Wort "Evangelist" erschrecke, hat das auch damit zu tun, dass
ich mit meinen Ansichten um Gottes willen niemandem zu nahe treten will.
Aber genau das tun Sie, wenn Sie vom Glauben sprechen!
Wie soll ich anders über meinen Glauben reden als persönlich beteiligt?
Wie anders kann ich schildern, was zum Beispiel während einer Messe
passiert. Die Messe ist für mich die Stunde der Woche, in der der Alltagslärm
draußen bleibt. Sie ist wie ein Himmel mit wechselnden Wolkenformationen
- der sich manchmal plötzlich verdüstert. Ich bin nicht ständig
in einem wundervollen, innigen Kontakt mit Gott, sondern diese Begegnungen
sind momentweise. Sie
merken: Darüber zu reden, fällt mir schwer. Ich will jedenfalls
nicht wie ein salbungsvoller Fernsehprediger klingen.
Welcher Ton ist angemessen, um von Gott zu erzählen?
Von Gott sollte
man möglichst einfach, ironiefrei, vielleicht auch
naiv sprechen. Die Zuhörer sollten ein Schwingen mitbekommen, es sollte
ihnen eine zusätzliche Dimension eröffnet werden. Beten ist für
mich ein romantischer Vorgang, den Novalis so definiert hat: "Ich gebe
dem Gemeinen einen höheren Sinn, dem Endlichen einen
unendlichen Schein."
Ihre sanften Töne erstaunen! Sonst greifen Sie gerne mal zur
Polemik, etwa wenn es gegen die evangelische Kirche geht. Was nervt Sie
an den Protestanten?
Der
Protestantismus hat die christliche Botschaft teilweise so weit heruntergeregelt,
dass sie kaum noch zu hören ist. Er ist zu bloßer Lebenshilfe übergegangen,
als hätte er Angst, die Menschen noch zu fordern. Ich finde, der Glaube
muss auch eine Herausforderung sein. Man darf die Menschen nicht immer nur
dort abholen, wo sie sind, sondern muss ihnen auch mal zurufen: "Setzt
euch in Bewegung!" Was mich außerdem stört, ist der kleinbürgerliche
Kult um Margot Käßmanns Scheidung, Alkoholfahrt und ihren Rücktritt.
Sie wird ja fast wie eine Heilige verehrt!
Gilt das nicht erst recht für die Verehrung des Papstes durch seine
katholischen Anhänger?
Der Papst steht wegen seines Glaubens im Kreuzfeuer.
Käßmann
dagegen hat Kultstatus wegen ihrer Verfehlungen.
Angesichts der zahlreichen Fälle von sexueller Gewalt gleicht Ihr Bekenntnis
zu "Rom" einem Himmelfahrtskommando.
Ich mag es eben nicht, mich
wegzuducken! Natürlich gab es in der Geschichte
der Kirche viele Verirrungen. Die Missbrauchsfälle sind ein Vulkanausbruch
an Schmutz, der die Kirche verfinstert habe, so der Papst. Er hat die Reue
um den Missbrauch in die Karfreitagsbitten aufgenommen, also in das Zentrum
der Liturgie. Aber auch das ist wahr: Nur 0,1% der Missbrauchsfälle
ereigneten sich in den Reihen der katholischen Kirche, 99,9% außerhalb.
Die Medien tun aber so, als sei es umgekehrt.
"Die Kirchen? Leer. Der Glaube? Verschüttet. Die Heiden? Auf dem
Vormarsch", schrieben Sie 1999 in einer Reportage. An diesem Befund
hat sich seither nichts geändert.
Das hatte ich in einem Artikel über Bischof Dyba geschrieben - die
Welt, wie er sie sieht. Das ist die Perspektive der bedrängten katholischen
Kirche. Dazugekommen ist heute ein noch stärker werdender Islam. Aber
vielleicht hilft dies auch: Viele merken jetzt, dass Glaube mehr ist als
nur ein zusätzlicher Abzug auf der Lohnsteuerkarte. Die Kirche wandelt
sich von der Volks- zur Entscheidungskirche: Da kann jeder frei entscheiden,
ob er Christ sein will oder nicht.
Sie haben mit Ihrem Glauben an Gott weite Teile der Naturwissenschaften
gegen sich. Z.B. schreibt der Physiker Stephen Hawking: "Spontane Schöpfung
ist der Grund dafür, dass es etwas gibt und nicht nichts." Dazu
sei ein Gott nicht nötig.
Spontane Schöpfung aus dem Nichts? Das kann ich mir noch weniger vorstellen
als eine Schöpfung durch Gott. Mein begrenzter Intellekt sagt mir: Aus
Nichts kann nichts werden - es braucht schon einen Verursacher, der außerhalb
von Zeit und Raum steht. Ein ähnliches Problem sehe ich in der Biologie:
Wie kann aus anorganischen Stoffen etwas Organisches werden? Und wie entsteht
aus Nicht-Bewusstsein Bewusstsein? Auch da habe ich eine ganz romantische
Vorstellung: Ich glaube an den göttlichen
Funken in uns allen. Das unterscheidet uns von Tieren: die glauben nicht.
Sie kommen aus einem katholischen Elternhaus und haben sich dann zum Kommunismus
bekehrt. Warum?
Auch der Kommunismus hatte ja etwas Katholisches:
Er war für mich eine
Art Weltkirche, er steht auf der Seite der Schwachen, zumindest der Theorie
nach, und er hat ein Erlösungsziel - die Befreiung vom Kapitalismus.
Man kann ja die Bergpredigt durchaus als Anleitung zum Kommunismus lesen.
Leider wird der Kommunismus barbarisch, wenn es an seine Umsetzung geht.
Er leistete sich erstaunlich viel Denkverbote und knüppelt alles nieder,
was sich ihm in den Weg stellt. Ich selbst bin "wegen kleingläubiger
Verirrung" aus der marxistisch-leninistischen Schülergruppe der
KPD-ML ausgeschlossen worden.
"Eine gottlose Gesellschaft, das heißt eine Gesellschaft ohne
jede Orientierung, eine Gesellschaft des reinen Pragmatismus, wo man heute
das denkt und morgen jenes denkt und überhaupt keine moralisch einigermaßen
verbindlichen Maßstäbe mehr hätte" - das sagt ausgerechnet
der Sozialist Gregor Gysi.
Gysi ist ein spezieller Fall! Er sieht Religion
wie ein Sozialingenieur: Wir brauchen ein Pumpwerk für Moral, ein bisschen
ethische Wärme
für die Gesellschaft. Gysi hat ein rein funktionales Verhältnis
zur Religion. Die Kirche ist aber nicht in erster Linie ein Wertelieferant,
sondern eine Gemeinschaft von Gläubigen. Wir glauben, dass Gott durch
seinen Sohn Christus in die Geschichte eingegangen ist.
Und das glauben Sie wirklich?
Ja, ich glaube, das ist das A und O. Mit historischer
Bibelkritik komme ich da nicht weit. Christus lässt sich nur aus den
Evangelien verstehen: Seine Geburt - und später seine Auferstehung -
ist das zentrale Wunder, der entscheidende Eingriff Gottes in die Weltgeschichte.
Sicher habe ich manchmal Glaubenszweifel, aber da halte ich es mit dem Philosophen
Søren Kierkegaard
(1813-1855): Aus dem Zweifel hilft nur der Sprung zu Gott.
Nur: Wie springt man zu Gott?
Als Katholik sage ich: durch Gebet, Messe und
Feier der Eucharistie. Allerdings lässt sich die Begegnung mit Gott
auch dadurch nicht automatisch erzeugen - sie bleibt Gnade, also ein Geschenk.
Die meisten Journalisten halten Frömmigkeit für eine intellektuelle
Verirrung.
Viele Journalisten pflegen den Aberglauben, dass sie voraussetzungslos,
wie mit einer gelöschten Festplatte durch die Welt gehen könnten.
Das ist aber Bullshit! Jeder von uns hat Vorurteile, Prägungen, Erfahrungen,
die er mit sich trägt und mit denen er die Welt interpretiert. Am ehrlichsten
finde ich es daher, dem Leser zu sagen, aus welcher Richtung man schaut.
Journalisten sollten nicht so tun, als ob sie objektiv wären
- sie können fair sein, aber sie sind dabei immer subjektiv. Und wer
nicht an Gott glaubt, glaubt eben an etwas anderes.
Woran glaubt ein Atheist?
Daran, dass er recht hat. Viele Atheisten halten
den Glauben an Gott für
eine Krankheit. Ein spirituelles Hungergefühl
Inzwischen nimmt die Zahl der Menschen zu, die nicht einmal mehr
Atheisten sind. Sie sind weder für noch gegen Gott, sondern in der
Gottesfrage völlig Unbeteiligte.
Ich glaube, jeder von uns hat ein spirituelles Hungergefühl. Der britische
Schriftsteller Julian Barnes schreibt: "Ich glaube nicht an Gott, aber
ich vermisse ihn." Jeder spürt doch diese Nervosität, diese
eingebaute Unruhe. Und jeder sucht! Von Axel Hacke (Süddeutsche Zeitung)
und Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo stammt zum Beispiel der Bestseller "Wofür
stehst Du?".
Ich habe nach 200 Seiten allerdings nicht kapiert, wofür die beiden
Autoren stehen. An einer Stelle schreiben sie: Wir verzichten auf Eindeutigkeit,
wir stehen für Ambivalenz.
Das reicht Ihnen nicht?
Nein! Bei vielen Menschen habe ich das Gefühl, dass sie auf einer religiös
ungesättigten Suche sind. Sie laufen durch die Straßen, sind wütend
auf die Regierung oder auf die Atomkraft. Die Leute sind einfach nicht glücklich,
ihre religiöse Energie flottiert, sie suchen.
In Ihrer Titelgeschichte über die Sünde schrieben Sie: "Mit
der Menschwerdung Gottes in Jesus ändert sich die Lage."
Jetzt steht das Weihnachtsfest vor der Tür, überall hängen
Adventssterne herum - und jeder Zweite weiß nicht, was wir da eigentlich
feiern und warum wir Geschenke kaufen. Dabei feiern wir eine ungeheuerliche
Revolution: dass Gott durch Jesus auf die Welt gekommen ist - arm, klein,
bedürftig, hilflos. Gott wird Mensch
- er ist nicht mehr der Ferne, sondern mitten unter uns. Das verändert
alles!
Und solche Aussagen stehen neuerdings im "Spiegel"! Was würde
Rudolf Augstein dazu sagen?
Vermutlich, was er immer sagte: 1. hat es Jesus
nie gegeben und 2. hat Jesus ganz andere Sachen gesagt.
Wer sich als Christ bekennt, brauche "den Mut, sich öffentlich
zum Idioten zu machen", schreiben Sie. Fragen sich Ihre Kollegen jetzt,
ob Sie ein frommer Spinner geworden sind?
Ich habe eigentlich nie einen Hehl
aus meinem Glauben gemacht. Es gibt aber auch Kollegen, die das spannend
finden, so monolithisch ist der "Spiegel" nun
auch wieder nicht. Als ich auf "Spiegel online" begründete,
warum ich NICHT aus der Kirche austrete, haben mich einige Kollegen angerufen
uns gesagt: Recht hast Du! Aber grundsätzlich ist das journalistische
Gewerbe kirchenfeindlich. Es wagen sich nur wenige an die letzten Wahrheiten
heran.
Vielen Dank für das Gespräch!
Quelle: kath.net, idea
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