Wähle das Leben
Der Salzburger Erzbischof Dr. Alois Kothgasser mahnt in
seinem ausführlichen Fastenhirtenbrief zu Verantwortung für das Leben.
In direkter Anlehnung an die Enzyklika "Evangelium Vitae" von Papst
Johannes Paul II. (25. März 1995) und aus aktuellem Anlass geht er auf die
Bedrohung des Gesellschaft durch Abtreibung ein.
Liebe Schwestern und Brüder auf dem Weg des Lebens!
Dankbar für die kostbare Gabe des Lebens haben wir Christen und Christinnen
Freude am Leben und nehmen den Auftrag, das Leben vom Beginn bis zum natürlichen
Tod in umfassender Weise zu schützen, ernst. Im Buch Deuteronomium lesen
wir die beeindruckenden Worte: "Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und
Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe
den Herrn, deinen Gott, höre auf seine Stimme und halte dich an ihm fest;
denn er ist dein Leben." (Dtn 30,19-20). Jesus von Nazareth gibt seine
Sendung im Johannesevangelium mit den Worten an: "Ich bin gekommen, damit
sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10). Selbst in
Schwierigkeiten und Unsicherheiten vermag jeder Mensch, der ehrlicherweise für
die Wahrheit und das Gute offen ist, den Wert und die Würde des menschlichen
Lebens vom ersten Augenblick des Daseins bis zu seinem Ende zu erkennen und
das Recht jedes Menschen zu bejahen, dass dieses sein wichtigstes Gut in höchstem
Maße geachtet werde. Auf der Anerkennung dieses Rechtes beruhen das menschliche
Zusammenleben und das politische Gemeinwesen.
Papst Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika "Evangelium vitae"
vom 25. März 1995 eindeutig und klar zu allen Menschen über den Wert
und die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens gesprochen. Das Evangelium von
der Liebe Gottes zum Menschen, das Evangelium von der Würde der menschlichen
Person und das Evangelium vom Leben sind ein einziges, unteilbares Evangelium,
die wahre Frohbotschaft für alle Menschen.
In seiner ersten Enzyklika hatte Johannes Paul II. im Jahr 1979 das Wort geprägt:
"Der Mensch, der lebendige Mensch, stellt den ersten und grundlegenden
Weg der Kirche dar." Warum dieses nahezu hartnäckige Bestehen des
Papstes auf dem unvergleichlichen Wert jedes menschlichen Lebens und der Würde
jeder menschlichen Person? Auf seinen vielen Wegen zu den Menschen, im Hören
auf die Situation der Zeit; sieht er die neuen Bedrohungen des menschlichen
Lebens.
1. Die neuen Bedrohungen des menschlichen Lebens
Tatsächlich gibt es in unserer Zeit eine erschütternde Vermehrung
und Verschärfung der Bedrohungen des Lebens von Personen und Völkern,
vor allem dann, wenn dieses Leben schwach und wehrlos ist. Zu den alten schmerzlichen
Plagen von Elend, Hunger, Krankheiten, Gewalt und Krieg gesellen sich heute
andere Übel unbekannter Art und von beunruhigenden Ausmaßen. Schon
das II. Vatikanische Konzil beklagte in einem Text, der geradezu von dramatischer
Aktualität ist, die vielfältigen Angriffe gegen das menschliche Leben.
In der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute heißt
es: "Was ... zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord,
Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit
der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder
seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer
die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche
Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel
mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der
Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche
Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich
schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen
weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind
sie im höchsten Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers."
(Nr. 27).
Dieses beunruhigende Panorama scheint leider in Ausdehnung begriffen. Mit den
neuen, vom wissenschaftlich- technologischen Fortschritt eröffneten Perspektiven
entstehen neue Formen von Anschlägen auf die Würde des Menschen, die
den Verbrechen gegen das Leben einen bisher unbekannten Aspekt verleiht und
neue, ernste Sorgen auslöst: Breite Schichten der öffentlichen Meinung
rechtfertigen manche Verbrechen gegen das Leben im Namen der Rechte der individuellen
Freiheit und beanspruchen unter diesem Vorwand nicht nur Straffreiheit für
derartige Verbrechen, sondern sogar die Genehmigung des Staates, sie in absoluter
Freiheit und unter Beteiligung des staatlichen Gesundheitswesens durchzuführen.
Das alles bewirkt einen tief greifenden Wandel im Blick auf das Leben und die
zwischenmenschlichen Beziehungen. Selbst die Medizin, die auf die Verteidigung
und Pflege des menschlichen Lebens ausgerichtet ist, verwendet sich in einigen
ihrer Bereiche immer eingehender für die Durchführung dieser Handlungen
gegen die Person und entstellt auf diese Weise ihr Gesicht, widerspricht sich
selbst und verletzt die Würde all derer, die sie ausüben.
Das Ergebnis, zu dem man gelangt, ist dramatisch: So schwerwiegend und beunruhigend
das Phänomen der Beseitigung so vieler menschlicher Leben vor der Geburt
oder auf dem Weg zum Tod auch sein mag, so ist die Tatsache nicht weniger schwerwiegend
und beunruhigend, dass selbst das Gewissen immer mehr verdunkelt wird, die Unterscheidung
zwischen Gut und Böse wahrzunehmen im Hinblick auf den fundamentalen Wert
des menschlichen Lebens.
Darum muss die Kirche den Stimmlosen ihre Stimme leihen und eine klare und feste
Bekräftigung des Wertes des menschlichen Lebens und seiner Unantastbarkeit
als leidenschaftlichen Appell im Namen Gottes an alle und jeden einzelnen richten:
Achte, verteidige, liebe das Leben, jedes menschliche Leben, und diene ihm!
Im Buch der Weisheit lesen wir: "Gott hat den Tod nicht gemacht und hat
keine Freude am Untergang der Lebenden. Zum Dasein hat er alles geschaffen ...
Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen und ihn zum Bild
seines eigenen Wesens gemacht" (Weish 1,13-14; 2,23).
2. Die Grenzen der Freiheit
Die Entscheidungen gegen das Leben entstehen bisweilen aus schwierigen oder
geradezu dramatischen Situationen, die von Leid und Einsamkeit, von völligem
Fehlen wirtschaftlicher Perspektiven, von Depression und Zukunftsangst geprägt
sind. Solche Umstände können die subjektive Verantwortlichkeit und
die daraus folgende Schuld derer vermindern, die diese in sich verbrecherischen
Entscheidungen treffen.
Trotzdem geht das Problem heute weit über die, wenn auch gebotene, Anerkennung
dieser persönlichen Situationen hinaus. Es stellt sich auch auf kultureller,
sozialer und politischer Ebene, wo es sein subversivstes und verwirrendstes
Gesicht in der immer weiter um sich greifenden Tendenz zeigt, die erwähnten
Verbrechen gegen das Leben als legitime Äußerungen der individuellen
Freiheit auszulegen, die als wahre und eigene Rechte anerkannt und geschützt
werden müssten.
Die Idee der Menschenrechte gerät heute dadurch in einen überraschenden
Widerspruch: Gerade in einer Zeit, in der man feierlich die unverletzlichen
Rechte der Person verkündet und öffentlich den Wert des Lebens geltend
macht, wird das selbe Recht auf Leben, besonders in den bezeichnendsten Augenblicken
des Daseins, wie es Geburt und Tod sind, praktisch verweigert und unterdrückt.
Auf der einen Seite sprechen die verschiedenen Menschenrechtserklärungen
und die vielfältigen Initiativen, die von ihnen erfreulicherweise inspiriert
werden, von der Durchsetzung einer moralischen Sensibilität auf Weltebene,
die sorgfältig darauf achtet, den Wert und die Würde jedes Menschen
als solchen anzuerkennen, ohne jede Unterscheidung von Rasse, Nationalität,
Religion, Geschlecht, politischer Meinung und sozialem Stand.
Auf der anderen Seite setzt man leider in den Taten ihre tragische Verneinung.
Diese ist noch bestürzender, ja skandalöser, weil sie sich in einer
Gesellschaft abspielt, die die Durchsetzung und den Schutz der Menschenrechte
zu ihrem Hauptziel und zugleich zu ihrem Ruhmesblatt macht. Wie lassen sich
diese wiederholten Grundsatzbeteuerungen mit der ständigen Vermehrung und
verbreiteten Legalisierung der Angriffe auf das menschliche Leben in Einklang
bringen? Wie lassen sich diese Erklärungen in Einklang bringen mit der
Ablehnung des schwächsten, des bedürftigsten, des alten oder des soeben
im Mutterschoß empfangenen Lebens?
Diese Angriffe stellen eine fundamentale Bedrohung der gesamten Kultur der Menschenrechte
dar, eine Bedrohung, die letzten Endes im Stande ist, selbst die Bedeutung des
demokratischen Zusammenlebens aufs Spiel zu setzen: Unsere Städte laufen
Gefahr, aus einer Gesellschaft von zusammenlebenden Menschen zu einer Gesellschaft
von Ausgeschlossenen, an den Rand Gedrängten, Beseitigten und Unterdrückten
zu werden.
Wo liegen die Wurzeln eines derart paradoxen Widerspruchs? Vermutlich in einer
Auffassung von Freiheit, die das einzelne Individuum zum Absoluten erhebt und
es nicht zur Solidarität, zur vollen Annahme der anderen und zum Dienst
an ihm ermutigt. Es handelt sich um eine ganz individualistische Freiheitsauffassung,
die schließlich die Freiheit der Stärkeren gegen die zum Unterliegen
bestimmten Schwachen ist. Die Freiheit besitzt eine wesentliche Beziehungsdimension.
Sie ist ein großes Geschenk des Schöpfers, sie steht letztlich im
Dienst der Person und ihrer Verwirklichung durch die Selbsthingabe und die Annahme
des anderen. Meine Freiheit findet an der Freiheit des anderen seine Grenzen.
Die Freiheit verleugnet sich selber, zerstört sich selber und macht sich
zur Vernichtung des anderen bereit, wenn sie ihre grundlegende Verbindung mit
der objektiven Wahrheit nicht mehr anerkennt und nicht mehr respektiert. Jedes
Mal, wenn die Freiheit sich von jeder Tradition und Autorität befreien
will und sich den Einsichten einer objektiven und gemeinsamen Wahrheit als dem
Fundament für das persönliche und soziale Leben verschließt,
hört der Mensch auf, als einzigen und unanfechtbaren Anhaltspunkt für
seine Entscheidungen die Wahrheit über Gut und Böse anzunehmen, sondern
lässt nur noch seine subjektive und wandelbare Meinung oder gar sein egoistisches
Interesse und seine Laune oder Willkür gelten.
In dieser Auffassung von Freiheit wird das soziale Zusammenleben tief greifend
entstellt. Wenn die Förderung des eigenen Ich als absolute Autonomie verstanden
wird, gelangt man unvermeidlich zur Verneinung des anderen, der als Feind empfunden
wird, gegen den man sich verteidigen muss. Dann beginnt jeder Bezug zu gemeinsamen
Werten und zu einer für alle geltenden Wahrheit zu schwinden: Das gesellschaftliche
Leben läuft Gefahr, alles verhandeln zu können, auch das erste Grundrecht,
das Recht auf Leben.
Das Recht hört auf Recht zu sein, wenn es nicht mehr fest auf die unantastbare
Würde der Person gründet, sondern dem Willen des Stärkeren unterworfen
wird. Auf diese Weise ist die Demokratie ungeachtet ihrer Regeln in der Gefahr,
den Weg einer "Demokratur" zu beschreiten. Der Staat, das Land ist
nicht mehr das gemeinsame Haus, in dem alle nach den Prinzipien wesentlicher
Gleichheit leben können, sondern es verwandelt sich in eine Art von Tyrannei,
die sich anmaßt, im Namen einer allgemeinen Nützlichkeit - die in
Wirklichkeit nichts anderes als das Interesse einiger weniger oder bestimmter
Gruppen ist - über das Leben der Schwächsten und Schutzlosesten, vom
ungeborenen Kind bis zum alten Menschen, verfügen zu können.
In einer Ansprache an die Teilnehmer am Studienkongress über das "Recht
auf Leben und Europa" fragt Johannes Paul II. im Jahre 1987: "Wie
kann man noch von Würde jeder menschlichen Person reden, wenn die Tötung
des schwächsten und unschuldigsten Menschen zugelassen wird? Im Namen welcher
Gerechtigkeit begeht man unter den Menschen die ungerechteste aller Diskriminierungen,
indem man einige von ihnen für würdig erklärt, verteidigt zu
werden, während anderen diese Würde abgesprochen wird?" Das "Recht"
auf Abtreibung, Kindestötung und Euthanasie zu fordern, heißt, eine
absolute Macht über die anderen und gegen die anderen zu behaupten. Aber
das ist der Tod der wahren Freiheit. Das ist der Untergang der Grundrechte des
Menschseins.
3. Die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen
Auf der Suche nach den tiefsten Wurzeln des Kampfes zwischen der "Kultur
des Lebens" und der "Unkultur des Todes" stoßen wir letztlich
auf die Verfinsterung des Sinnes für Gott und den Menschen, wie sie für
das vom Säkularismus und Materialismus beherrschte soziale und kulturelle
Umfeld typisch zu sein scheinen. Wenn man den Sinn für Gott verliert, besteht
die Gefahr, dass man auch den Sinn für den Menschen verliert, für
seine Würde und für sein Leben. Die Verfinsterung des Sinnes für
Gott und den Menschen führt unvermeidlich zu einem praktischen Materialismus,
in dem der Individualismus, das Nützlichkeitsdenken und das maßlose
Genießen gedeihen.
Darin zeigt sich, was der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt: "Und
da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen
Denken aus, so dass sie tun, was sich nicht gehört" (Röm 1,28).
Auf diese Weise werden die Werte des Seins durch jene des Habens ersetzt. Das
einzige Ziel, auf das es anzukommen scheint, ist die Erlangung des eigenen materiellen
Wohlergehens. Die so genannte Lebensqualität wird vorwiegend oder ausschließlich
als wirtschaftliche Leistung, hemmungsloser Konsumismus, Schönheit und
Genuss des physischen Lebens ausgelegt, wobei die tiefer reichenden - beziehungsmäßigen,
geistigen und religiösen - Dimensionen des Daseins in Vergessenheit geraten.
In einem solchen Gesamtrahmen wird auch das Leiden eine unvermeidbare Belastung
der menschlichen Existenz.
In einem solchen kulturellen Umfeld wird der Körper des Menschen nicht
mehr als für die Person typische Wirklichkeit, nämlich als Zeichen
und Ort der Beziehung zu den anderen, zu Gott und zur Welt, wahrgenommen. Er
ist auf das rein Materielle verkürzt, er ist nur ein Komplex von Organen,
von Funktionen und Kräften, die nach Kriterien von Genuss und Leistung
zu gebrauchen sind. In einer solchen Sicht erfahren die zwischenmenschlichen
Beziehungen eine schwerwiegende Verarmung. Die ersten, die unter den Schäden
einer solchen Verarmung zu leiden haben, sind das Kind, der kranke, leidende
und der alte Mensch.
4. Zeichen der Hoffnung im Einsatz für das Leben
In der Tat fehlt es in der mitmenschlichen Gemeinschaft und auch im öffentlichen
Leben nicht an Zeichen einer wahren "Kultur des Lebens". Es fällt
diesen positiven Zeichen oft schwer, sich darzustellen und erkannt zu werden,
vielleicht auch deshalb, weil sie in manchen Medien keine entsprechende Aufmerksamkeit
finden. Aber wie viele Initiativen zur Hilfe und Unterstützung für
die schwächsten und schutzlosesten Menschen sind in der christlichen Gemeinschaft
und in der bürgerlichen Gesellschaft auf lokaler, nationaler und internationaler
Ebene von einzelnen, von Gruppen, von Bewegungen und von verschiedensten Organisationen
ergriffen worden und werden weiterhin in die Wege geleitet!
Noch immer gibt es - Gott sei Dank - zahlreiche Eheleute, die mit tiefer Verantwortung
die Kinder als die kostbarste Gabe annehmen. Und es fehlt auch nicht an Familien,
die über ihren täglichen Dienst am Leben hinaus die Offenheit besitzen,
sich verlassener, in Notlagen befindlicher Kinder und Jugendlicher, Personen
mit Behinderungen und allein gebliebener alter Menschen anzunehmen. Nicht wenige
Zentren für Lebenshilfe, Aktivitäten für das Leben oder ähnliche
Einrichtungen werden von Personen und Gruppen gefördert, die mit bewundernswerter
Hingabe und Aufopferung Müttern in schwieriger Lage, die versucht sind,
eine Abtreibung vornehmen zu lassen, die notwendige Hilfe anbieten.
In der ganzen Welt gibt es Bewegungen und Initiativen zur sozialen Sensibilisierung
für das Leben. Wenn solche Bewegungen in Übereinstimmung mit ihrer
glaubwürdigen Inspiration mit entschiedener Standhaftigkeit, aber ohne
Anwendung von Gewalt bzw. erneuter Diskriminierung handeln, fördern sie
damit eine breite Bewusstmachung des Wertes des menschlichen Lebens. Allerdings:
Gruppen, die aktiv und engagiert für das Leben eintreten, sollten nicht
in blinden, nahezu fanatischen Eifer verfallen, der mehr zu feindseliger Konfrontation
als zur Überwindung der Schwierigkeiten beiträgt.
Kriterien der Glaubwürdigkeit für christlich engagierte Gruppen sind
insbesondere, dass sie mit ihren Äußerungen und Aktionen eine christlich
verantwortete Motivation erkennen lassen, Andersdenkenden bei aller notwendigen
Auseinandersetzung mit Achtung begegnen, Menschen in Not und Konfliktsituationen
helfen und sich für eine Verbesserung der sozialen und rechtlichen Ordnung
sachkundig einsetzen. Muss man nicht auch an alle jene täglichen Gesten
von Annahme, Opfer, selbstloser Sorge erinnern, die eine unübersehbare
Anzahl von Personen voll Liebe in den Familien, in den Krankenhäusern,
in den Waisenhäusern, in den Altersheimen und in anderen Zentren oder Gemeinschaften
zum Schutz des Lebens vollbringt? Das sind wahrhaft Beispiele von barmherzigen
Samaritern, wie sie das Gleichnis Jesu im Lukasevangelium darstellt (vgl. Lk
10,29-37).
Zu den Hoffnungszeichen muss auch eine in breiten Schichten der öffentlichen
Meinung zunehmende neue Sensibilität gezählt werden, die immer mehr
gegen den Krieg als Instrument zur Lösung von Konflikten zwischen den Völkern
gerichtet ist und nach wirksamen, aber gewaltlosen Mitteln sucht, um die Konflikte
zu lösen. Dazu gehört auch die immer weiter verbreitete Abneigung
der öffentlichen Meinung gegen die Todesstrafe. Nicht selten hat man jedoch
den Eindruck, dass heute die Schwächsten in der Gesellschaft, die Wehrlosesten,
die ungeborenen Kinder unter das Verdikt einer ganz eigenartigen "Todesstrafe"
fallen.
Positiv erscheint weiters die erhöhte Aufmerksamkeit für die Qualität
des Lebens und für die Umwelt, die vor allem in den hoch entwickelten Gesellschaften
festzustellen ist und für die oft Kinder und Jugendliche besondere Sensibilität
besitzen. In diesen Bemühungen zeigen sich die Erwartungen der Menschen
nicht mehr so sehr auf die Probleme des Überlebens konzentriert, als vielmehr
auf die Suche nach einer globalen Verbesserung der Lebensbedingungen. Wenn heute
so viel Sorge und ehrliches Bemühen auf die Bewahrung, Erhaltung und Gestaltung
der Schöpfung gelegt wird, auf den Natur- und Tierschutz, um wie viel mehr
Sorge müsste dem wehrlosen, ungeschützten, ungeborenen menschlichen
Leben gelten! Es kann doch nicht sein, dass Pflanzen, Tiere schützenswerter
erscheinen als das schwache menschliche Leben. Der umfassende Schutz allen Lebens
ist allen anvertraut und aufgetragen!
Besonders bedeutsam ist das Erwachen bzw. Wiederaufleben einer ethischen Reflexion
über das Leben. Durch das Aufkommen der Bioethik und ihrer immer mehr intensivierten
Entwicklung und Ausweitung werden - unter Gläubigen und Nichtgläubigen,
wie auch zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen - die Reflexion
und der Dialog über grundlegende ethische Probleme gefördert, die
das Leben der Schöpfung, das Leben der Natur und das Leben der Menschen
betreffen. Die unbedingte und bedingungslose Entscheidung für das Leben
führt zu einer echten Kultur des Lebens.
5. Achtung und Liebe für alles Leben
und das Leben aller
Angesichts der unzähligen ernsten Bedrohungen des Lebens in der modernen
Welt könnte man von einem Gefühl unüberwindlicher Ohnmacht übermannt
werden. Es hat den Anschein, das Gute werde nie die Kraft haben können,
das Böse zu überwinden. Allerdings: Das Evangelium vom Leben ist eine
konkrete und personale Wirklichkeit, weil es in der Verkündigung der Person
Jesu Christi selber besteht. Dem Apostel Thomas, und in ihm jedem Menschen,
zeigt sich Jesus mit den Worten: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und
das Leben" (Joh 14,6). Der Sohn Gottes ist Mensch geworden und zu den Menschen
gekommen, "damit sie das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh
10,10).
Das Leben des Menschen kommt von Gott, es ist sein Geschenk, sein Abbild und
Ebenbild, Teilhabe an seinem Lebensatem. Daher ist Gott der einzige Herr über
das Leben; der Mensch kann nicht darüber verfügen. Die Unantastbarkeit,
die von Anfang an den Herzen des Menschen, seinem Gewissen eingeschrieben ist,
erwächst aus dieser Beziehung mit Gott. Das auf die Unantastbarkeit des
menschlichen Lebens bezügliche Gebot Gottes steht im Zentrum der "Zehn
Worte", im Bund vom Sinai (vgl. Ex 34,28). Es verbietet zu allererst den
Mord: "Du sollst nicht töten" (Ex 20,13). Im selben Buch der
Bibel steht der Satz: "Wer unschuldig und im Recht ist, den bring nicht
um sein Leben" (Ex 23,7).
In dieser Botschaft, die das Neue Testament zur Vervollkommnung des Alten oder
Ersten Testamentes bringt, ist ein mächtiger Appell zur Achtung der Unantastbarkeit
des physischen Lebens und der persönlichen Integrität und dieser erreicht
den Höhepunkt in dem positiven Gebot, das dazu verpflichtet, seinen Nächsten
zu lieben wie sich selbst. Und dies steht schon im Buch Levitikus: "Du
sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Lev 19,18). Durch
sein Wort und sein Tun verdeutlicht Jesus die positiven Forderungen des Gebots
von der Unantastbarkeit des Lebens noch weiter. Sie waren bereits im Alten Testament
vorhanden, wo es dem Gesetzgeber darum ging, Daseinsbeziehungen schwachen und
bedrohten Lebens zu gewährleisten und es zu schützen: den Fremden,
die Witwe, den Waisen, den Kranken, überhaupt den Armen, ja selbst das
Leben vor der Geburt (vgl. Ex 21,22; 22,20-26).
Mit Jesus von Nazareth erlangen diese positiven Forderungen neue Kraft und werden
in ihrer ganzen Weite und Tiefe offenbar: sie reichen von der Sorge um das Leben
des Bruders, der Schwester, des Familienangehörigen, der Angehörigen
des selben Volkes, der Ausländer, die im Land Israel wohnen, zur Sorge
um den Fremden bis hin zur Liebe des Feindes. Der Fremde ist nicht länger
ein Fremder für den, der einem anderen Menschen in Not zum Nächsten
werden soll bis zu dem Punkt, dass er die Verantwortung für sein Leben
übernimmt, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter sehr anschaulich
und einprägsam schildert (vgl. Lk 10,25-37). Auch der Feind ist für
den kein Feind mehr, der ihn zu lieben beginnt (vgl. Mt 5,38-48; Lk 6,27-35)
und dem er Gutes tun soll (vgl. Lk 6,27.33.35).
Höhepunkt dieser Liebe ist das Gebet für den Feind, durch das man
sich mit der sorgenden Liebe Gottes um den Menschen in Einklang bringt: "Ich
aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen,
damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine
Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über
Gerechte und Ungerechte" (Mt 5,44-45; vgl. Lk 6,28.35).
Gottes Gebot zum Schutz des Lebens des Menschen hat also seinen tiefsten Aspekt
in der Forderung von Achtung und Liebe gegenüber jedem Menschen und seinem
Leben. Die Aufgabe, das Leben anzunehmen und ihm zu dienen, betrifft alle und
muss sich vor allem gegenüber dem im Zustand größter Schwachheit
befindlichen Leben erweisen.
6. Die Würde des ungeborenen Lebens
Das menschliche Leben befindet sich in einer Situation großer Gefährdung,
wenn es in die Welt eintritt und wenn es das irdische Dasein verlässt.
Die Aufforderungen zu Sorge und Achtung vor allem gegenüber dem von Krankheit
und Alter gefährdeten Sein sind im Wort Gottes sehr wohl vorhanden. Wenn
es an direkten und ausdrücklichen Aufforderungen zum Schutz des menschlichen
Lebens in seinen Anfängen, insbesondere des noch ungeborenen, wie auch
des zu Ende gehenden Lebens, fehlt, so lässt sich das leicht daraus erklären,
dass schon allein die Möglichkeit, das Leben in diesen Situationen zu verletzen,
anzugreifen oder gar zu leugnen, der religiösen und kulturellen Sicht des
Gottesvolkes Israel fremd ist. Im Alten Testament wird die Unfruchtbarkeit als
ein Fluch gefürchtet, während die zahlreiche Nachkommenschaft als
ein Segen empfunden wird: "Kinder sind eine Gabe des Herrn, die Frucht
des Leibes ist sein Geschenk" (Ps 127,3; vgl. Ps 128,3-4).
Wirksam ist aber vor allem die Gewissheit, dass das von den Eltern weitergegebene
Leben seinen Ursprung in Gott hat, wie die vielen Bibelstellen bezeugen, die
voll Achtung und Liebe von der Empfängnis, von der Formung des Lebens im
Mutterleib, von der Geburt und von der engen Verbindung sprechen, die zwischen
dem Anfang des Seins und dem Tun Gottes des Schöpfers besteht. "Noch
ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus
dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt" (Jer 1,5).
Die Existenz jedes einzelnen Menschen ist von ihren Anfängen an im Plan
Gottes gegenwärtig.
Hinweise anbetenden Staunens über Gottes Eingreifen bei der Bildung des
Lebens im Mutterleib finden sich sowohl in den Psalmen als auch in den späteren
Büchern des Alten Testamentes. Alles Leben ist empfangen. Kein Mensch hat
sich selber in die Welt gesetzt. Daraus folgt die Dankbarkeit, überhaupt
leben zu dürfen, die Dankbarkeit, auch den Eltern gegenüber, die das
Leben geschenkt haben. Wir sind ein Volk des Lebens, nicht des Todes! Das menschliche
Leben hat seinen Mittelpunkt, seinen Segen und seine Fülle erreicht, wenn
es selbst verschenkt wird in der Hingabe im Dienst an den Mitmenschen.
7. Der Mensch ist Mensch von Anfang an
Viele unserer Zeitgenossen, leider auch Christen, teilen heute die Ansicht,
dass Abtreibung zwar nicht sein soll, aber in einzelnen Fällen unvermeidlich
wäre und deshalb als "kleineres Übel" gerechtfertigt sein
könnte. Diese Einstellung führt dazu, dass man zwar grundsätzlich
am Wert des Lebens des ungeborenen Kindes festhält, ihm aber im konkreten
Fall, andere, nachgeordnete Gesichtspunkte, etwa eine materielle oder seelische
Notlage oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau, vorordnet. Abtreibung erscheint
dann als ein von den Zwängen des Lebens diktierter Ausweg. Dabei wird das
Lebensrecht des ungeborenen Kindes dem geborenen Menschen untergeordnet.
Wenngleich solche Rechtfertigungsgründe bei vielen unserer Zeitgenossen
auf Zustimmung stoßen, so halten sie doch einer rationalen Überprüfung
nicht stand. Das ungeborene Kind trägt bereits alle Möglichkeiten
seiner späteren Entwicklung in sich. Es ist ein und derselbe Mensch, der
vom Augenblick der Zeugung an in einem kontinuierlichen Prozess seine Anlagen
entfaltet, bis er zu einem eigenverantwortlichen, selbständigen Dasein
heranwächst. Deshalb ist ein menschliches Geschöpf vom Augenblick
seiner Empfängnis an als menschliche Person zu achten und zu behandeln.
Menschliches Leben besitzt von Anfang an eigene Würde, eigenes Recht und
eigenständigen Schutzanspruch, der durch die Rechte anderer oder besondere
ihm entgegenstehende Umstände nicht aufgehoben werden kann. Bei der Entscheidung
für oder gegen eine Abtreibung steht das ganze Leben eines Menschen auf
dem Spiel; es steht in Frage, ob ein menschliches Leben mit all seinen unvorhersehbaren
Erfahrungen und Erlebnissen, seinem zukünftigen Glück und Leid, mit
allen menschlichen Beziehungen, in denen es sich entfalten kann, mit aller möglichen
Freude für sich und für andere sein darf oder nicht. Der Gedanke einer
Abwägung der verschiedenen auf dem Spiel stehenden Güter ist hier
völlig fehl am Platz. Denn es geht bei der Abtreibung nicht um ein einzelnes
Gut, sondern um das Leben selbst, das für jeden von uns, ob geboren oder
ungeboren, Voraussetzung aller anderen Güter des Lebens, aller persönlichen
Wertung, bewussten Pläne oder individuellen Zielsetzungen ist.
8. Das Gebot "Du sollst nicht töten" schützt
uns alle
"Für das Leben des Menschen fordere ich Rechenschaft vom Menschen",
so heißt es im Buch Genesis (9,5). Das menschliche Leben ist als etwas
Heiliges anzusehen, da es ja schon von seinem Anfang an das Handeln des Schöpfers
erfordert und immer in einer besonderen Beziehung mit dem Schöpfer, seinem
einzigen Ziel, verbunden bleibt. Gott allein ist der Herr des Lebens vom Anfang
bis zum Ende: Niemand kann sich - unter keinen Umständen - das Recht anmaßen,
einem unschuldigen menschlichen Geschöpf direkt den Tod zuzufügen.
"Du sollst nicht töten", so lautet das göttliche Gebot (Ex
20,13; Dtn 5,17). Gott erklärt sich zum absoluten Herrn über das Leben
des nach seinem Bild und Gleichnis gestalteten Menschen (vgl. Gen 1,26-28).
Das menschliche Leben weist somit einen heiligen, unverletzlichen Charakter
auf, in dem sich die Unantastbarkeit des Schöpfers selber widerspiegelt.
Eben deshalb wird Gott zum strengen Richter einer jeden Verletzung des Gebotes
"Du sollst nicht töten", das die Grundlage des gesamten menschlichen
Zusammenlebens bildet. Er, Gott, ist der Verteidiger des Unschuldigen (vgl.
Gen 4,9-15; Jes 41,14; Jer 50,34; Ps 19,14). Auch auf diese Weise macht Gott
deutlich, dass er keine Freude hat am Untergang der Lebenden (vgl. Weish 1,13).
Das Gebot "Du sollst nicht töten" besitzt einen ausgesprochen
starken negativen Inhalt: Es zeigt die äußerste Grenze auf, die niemals
überschritten werden darf. Es spornt jedoch auch zu einem positiven Verhalten
der absoluten Achtung vor dem Leben an, mit dem Ziel, es zu fördern und
auf dem Weg der Liebe, die sich verschenkt, die annimmt und dient, voranzuschreiten.
Das Töten eines Menschen, in dem das Bild Gottes gegenwärtig ist,
ist ein besonders schweres Vergehen. Gott allein ist Herr des Lebens. Jede Sünde
gegen das Leben ist eine Sünde wider den Heiligen Geist, den Schöpfer-
Geist und Lebensspender. Ein elementarer Grundsatz, dem das neuzeitliche Menschenrechtsdenken
und der demokratische Rechtsstaat zum Durchbruch verholfen haben, lautet: Das
Leben eines jeden Menschen ist gleich viel wert, unabhängig von seinem
sozialen Status, seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, seinem Bildungsniveau,
seiner Hautfarbe oder seinem Aussehen, seinem Geschlecht, seinem Alter oder
seinem gesundheitlichen Zustand, seiner Religion. Diese Überzeugung von
der gleichen Würde aller Menschen muss mit gleichem Ernst und ohne Abstriche
für das Leben ungeborener Kinder gelten. Die Kirche verteidigt ein grundlegendes
Menschenrecht und ein Grundprinzip des demokratischen Rechtsstaates, welches
im Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zur Geltung kommt.
Das Gebot "Du sollst nicht töten" muss auch in Konfliktsituationen
als Grundlage eines humanen Zusammenlebens anerkannt werden. Es kann seine gesellschaftliche
Friedensfunktion nur erfüllen, wenn es auch gegenüber den schwächsten
Mitgliedern der Gesellschaft wirksam praktiziert wird. Der Respekt vor der Personwürde
des Menschen umfasst daher die Unverletzlichkeit seines leiblichen Daseins von
allem Anfang an. Als vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen
ist Abtreibung darum ein schweres Unrecht, das niemals gerechtfertigt werden
kann, auch nicht durch Berufung auf eine persönliche Gewissensentscheidung.
Insbesondere am Anfang und am Ende des Lebens zeigt sich, dass das Tötungsverbot
nicht nur eine negative Schranke ist. Es muss vielmehr im Licht des umfassenden
Liebesgebotes verstanden und als positiver Auftrag zur Bejahung und Annahme
des jedem Menschen von Gott geschenkten Lebens gesehen werden. Das Gebot "Du
sollst nicht töten" verpflichtet darum jeden Menschen auch in seinen
positivsten Inhalten, nämlich Achtung, Liebe und Förderung des menschlichen
Lebens.
9. Das verabscheuungswürdige Verbrechen der Abtreibung - vielfältige
Zusammenhänge
Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die
Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und verwerflich
machen. Das II. Vatikanische Konzil bezeichnet sie und die Tötung des Kindes
als "verabscheuungswürdiges Verbrechen" (GS, Nr. 51). Doch heute
hat sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des Vergehens nach und
nach verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst
im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise
des sittlichen Bewusstseins, das immer weniger im Stande ist, zwischen Gut und
Böse zu unterscheiden, vor allem auch, wenn es das Grundrecht auf Leben
betrifft. In Österreich wird meist vergessen, dass der Unrechtscharakter
der Abtreibung weiterhin eindeutig festgehalten wird (StGB §96), dass es
sich bei der Abtreibung nicht um ein Anspruchsrecht oder gar um eine Errungenschaft
modernen Lebens handeln kann. Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es
mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim
Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen nachzugeben. "Weh denen, die
das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht
und das Licht zur Finsternis machen", sagt der Prophet Jesaja (5,20). Gerade
im Bezug auf die Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen Sprachgebrauchs
festzustellen, wie etwa die Formulierung "Unterbrechung der Schwangerschaft",
die darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen und ihre Schwere in der
öffentlichen Meinung abzuschwächen. Abtreibung ist Abbruch, ist -
noch eindeutiger - Tötung eines ungeborenen Menschen! Die vorsätzliche
Abtreibung ist, wie auch immer sie vorgenommen werden mag, die beabsichtigte
und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis
und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz. Getötet wird hier
ein menschliches Geschöpf, das gerade erst dem Leben entgegengeht, das
heißt das absolut unschuldigste Wesen, das man sich vorstellen kann. Es
ist schwach, wehrlos, sodass es selbst ohne jedes Minimum an Verteidigung ist,
wie sie die flehende Kraft der Schreie und des Weinens des Neugeborenen darstellt.
Es ist voll und ganz dem Schutz und der Sorge derjenigen anvertraut, die es
im Schoße trägt.
Gewiss nimmt der Entschluss zur Abtreibung für die Mutter sehr oft einen
dramatischen und schmerzlichen Charakter an, wenn die Entscheidung, sich der
Frucht der Empfängnis zu entledigen, nicht aus rein egoistischen und Bequemlichkeitsgründen
gefasst wurde, sondern weil manche wichtige Güter wie die eigene Gesundheit
oder ein anständiges Lebensniveau für die anderen Mitglieder der Familie
gewahrt werden soll. Manchmal sind für das Ungeborene Existenzbedingungen
zu befürchten, die den Gedanken aufkommen lassen, es wäre für
dieses besser, nicht geboren zu werden. Niemals jedoch können diese und
ähnliche Gründe, mögen sie noch so ernst und dramatisch sein,
die vorsätzliche Vernichtung eines unschuldigen Menschen rechtfertigen.
Natürlich ist zu bedenken: Eine Abtreibung steht in vielfältigen Zusammenhängen.
Bei vielen Diskussionen gerät leicht in Vergessenheit, dass die Schwangerschaft
wie die Geburt für die allermeisten Frauen eine sehr positive Erfahrung
ist. Trotz möglicher körperlicher und seelischer Umstellungsprobleme
gehört sie nach ihrer Erfahrung zum Schönsten, was Menschen überhaupt
erleben können. Wenn die Schwangerschaft freilich ungewollt eintritt, kommen
bei vielen Frauen leicht Befürchtungen und Ängste auf; es stellen
sich ihnen bange Fragen an die eigene Zukunft und die des ungeborenen Kindes:
Was wird aus meinen Lebensplänen? Wie geht es mit mir weiter? Werde ich
mit dem Kind zurechtkommen? Werde ich ihm alles geben können, was es braucht?
Wird meine Partnerschaft halten oder wird sie durch das Kind belastet und am
Ende gar zerbrechen? In einer solchen Situation ist in ganz besonderer Weise
der Vater des Kindes aufgefordert, seine Verantwortung für die Frau und
das Kind zu erkennen und ihr nicht auszuweichen - eine Aufgabe, für die
er kaum positive Leitbilder findet in einer Gesellschaft, in der es für
viele als Kavaliersdelikt gilt, eine schwanger gewordene Frau sitzen zu lassen.
Ein Schwangerschaftskonflikt bleibt niemals auf eine Zweierbeziehung beschränkt.
Er ist vielmehr durch eine Beziehung zwischen drei Personen bestimmt. Allzu
leicht wird das eigenständige Lebensrecht des Kindes aus der Betrachtung
ausgeblendet und übersehen, dass das ungeborene Kind nicht Eigentum der
Eltern, sondern gerade in seiner Wehrlosigkeit ihnen anvertraut ist.
Es hat darum nicht mit unzulässigem seelischen Druck zu tun, wenn Vater
und Mutter daran erinnert werden, dass sie gemeinsam Verantwortung tragen für
das wehrlose und verletzliche menschliche Lebewesen. Dem Vater machen es die
Natur und die Gesellschaft leichter, sich seiner Verantwortung zu entziehen.
Die schwangere Frau ist in einer anderen Lage. Normalerweise sucht sie nicht
einen bequemen und leichten Ausweg. Sie braucht jedoch jemanden, der sie in
ihrer Situation versteht und der zu ihr steht. Wer ihr als Lösung ihrer
Probleme zur Abtreibung rät, lässt sie letztlich allein. Scheinbare
Entlastung und Befreiung erweisen sich auf Dauer zumeist als schwere Belastung,
mit der sie auf ihren weiteren Lebensweg allzu oft erst recht allein fertig
werden muss.
Das Problem ungewollter Schwangerschaften betrifft aber nicht nur die Eltern
des ungeborenen Kindes. Viele Menschen aus ihrem Umkreis nehmen Einfluss auf
die Entscheidung für oder gegen das Kind: Familie, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen
und -kolleginnen. Von Einstellung und Haltung des sozialen Umfelds hängt
es entscheidend mit ab, ob die Eltern des ungeborenen Kindes oder die Mutter
allein die Kraft finden, das Kind anzunehmen. Wenn sich das familiäre Umfeld
verweigert oder gar offen Druck ausübt, ist es für die Eltern oft
unmöglich, Perspektiven für ein Leben mit ihrem Kind zu entdecken.
Immer sind am Ende viele mitschuldig geworden, wenn eine schwangere Frau den
Gang zu einem Arzt antritt, der bereit ist, seine ärztliche Kunst zum Töten
zu missbrauchen.
10. Ein Wort der Hoffnung - Gottes Vergebung für geschehenes Unrecht
Es ist durch vielfältige Erfahrungen erwiesen, dass Frauen, die sich in
ihrer Bedrängnis zu einer Abtreibung entschlossen haben, später unter
ihrer Entscheidung leiden und sie bereuen. Als Christen wissen wir, dass selbst
das Unrecht des Tötens durch Gott Vergebung finden kann. Vor Gott muss
keine Frau mit ihren Ängsten, Selbstzweifeln und Schuldgefühlen allein
bleiben. Vergebung und Versöhnung meinen jedoch etwas anderes als die in
unserer Gesellschaft weit verbreitete Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber
dem geschehenen Unrecht. Vergebung ist nur möglich, wenn Schuld nicht heruntergespielt
oder verdrängt, sondern eingesehen und angenommen wird. Wo dies geschieht,
ist bereits der erste Schritt zur Vergebung und Versöhnung und damit zur
Neuorientierung des Lebens getan.
In diesem Zusammenhang gewinnt das Wort "Ich spreche dich" los im
Namen und im Auftrag Jesu ein unerhörtes Gewicht. Papst Johannes Paul II.
wendet sich an die Frauen, die sich in solcher Situation befinden, und bittet
sie: "Die Wunde in eurem Herzen ist noch nicht vernarbt. Was geschehen
ist, war und bleibt in der Tat zutiefst unrecht. Lasst euch jedoch nicht von
Mutlosigkeit ergreifen und gebt die Hoffnung nicht auf. Sucht vielmehr das Geschehene
zu verstehen und interpretiert es in seiner Wahrheit. Falls ihr es noch nicht
getan habt, öffnet euch voll Demut und Vertrauen der Reue: Der Vater allen
Erbarmens wartet auf euch, um euch im Sakrament der Versöhnung seine Vergebung
und seinen Frieden anzubieten. Ihr werdet merken, dass nichts verloren ist,
und werdet auch euer Kind um Vergebung bitten können, das jetzt im Herrn
lebt."
11. "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen"
Eines der Merkmale der derzeitigen Anschläge auf das menschliche Leben
besteht in dem Bestreben, gesetzliche Legitimation für sie zu fordern,
so als würde es sich um Rechte handeln, die der Staat, zumindest unter
bestimmten Bedingungen, den Bürgern zuerkennen müsste, und dem daraus
folgenden Bestreben, die Umsetzung dieser "Rechte" mit dem sicheren
Beistand der Ärzte und des Pflegepersonals zu verlangen.
Nicht selten wird behauptet, das Leben eines Ungeborenen oder eines sich in
völliger Schwäche befindlichen Menschen sei nur ein relatives Gut;
entsprechend einer Logik der Verhältnismäßigkeit oder des kalten
Kalküls sollte es mit anderen Gütern verglichen und abgewogen werden;
und es wird auch behauptet, dass nur jemand, der sich in der konkreten Situation
befindet und persönlich betroffen ist, eine gerechte Abwägung der
Güter vornehmen könne, um die es geht: infolgedessen könnte nur
er über die Sittlichkeit seiner Entscheidung bestimmen. Deshalb sollte
das Gesetz immer Ausdruck der Meinung und des Willens der Mehrheit der Bürger
sein und ihnen, wenigstens in bestimmten Extremfällen, auch das Recht auf
Abtreibung und auf Euthanasie zuerkennen.
Die radikalsten Meinungsäußerungen gehen schließlich so weit
zu behaupten, in einer modernen und pluralistischen Gesellschaft müsste
jedem Menschen volle Autonomie zuerkannt werden, über das eigene Leben
und das Leben des ungeborenen Kindes zu verfügen. Auf jeden Fall ist in
der demokratischen Kultur unserer Zeit die Meinung weit verbreitet, wonach sich
die Rechtsordnung einer Gesellschaft darauf beschränken sollte, die Überzeugungen
der Mehrheit zu verzeichnen und anzunehmen, und daher nur auf dem aufbauen könne,
was die Mehrheit selber als moralisch anerkennt und lebt.
Gemeinsame Wurzel all dieser Tendenzen ist ein gewisser ethischer Relativismus,
der für weite Teile der modernen Kultur bezeichnend zu sein scheint. Fasst
eine parlamentarische oder gesellschaftliche Mehrheit, wenn sie die Rechtmäßigkeit
der unter bestimmten Bedingungen vorgenommenen Tötung des ungeborenen menschlichen
Lebens beschließt, nicht vielmehr einen tyrannischen Beschluss gegen das
schwächste und wehrloseste menschliche Geschöpf? Das Weltgewissen
reagiert mit Recht auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, mit denen das
letzte Jahrhundert so traurige Erfahrungen gemacht hat. Wenn heute ein beinahe
weltweites Einvernehmen über den Wert der Demokratie festzustellen ist,
wird das als ein positives Zeichen der Zeit angesehen, wie auch die Kirche dies
wiederholt getan hat. Aber der Wert der Demokratie steht und fällt mit
den Werten, die sie verkörpert und fördert: grundlegend und unumgänglich
sind sicherlich die Würde jeder menschlichen Person, die Achtung ihrer
unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte sowie die Übernahme
des Gemeinwohls als Ziel und regelndes Kriterium für das politische Leben.
Grundlage dieser Werte können nicht vorläufige und wechselnde Meinungs-
"Mehrheiten" sein, sondern nur die Anerkennung objektiver sittlicher
Werte. Ohne eine objektive sittliche Verankerung kann auch die Demokratie keinen
stabilen Frieden festigen.
Im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft und die Entwicklung einer gesunden
Demokratie ist es daher dringend notwendig, das Vorhandensein wesentlicher,
angestammter menschlicher und sittlicher Werte wiederzuentdecken, die der Wahrheit
des Menschen im Sein selbst entspringen und die Würde der Personen zum
Ausdruck bringen und schützen: Werte also, die kein Individuum, keine Mehrheit
und kein Staat je werden hervorbringen, verändern oder zerstören können,
sondern die sie nur anerkennen, achten und fördern werden müssen.
Jedoch kann in keinem Lebensbereich das staatliche Gesetz das Gewissen ersetzen,
noch kann es Normen über das vorschreiben, was über seine Zuständigkeit
hinausgeht, die darin besteht, das Gemeinwohl der Menschen durch die Anerkennung
und den Schutz ihrer Grundrechte, durch die Förderung des Friedens und
der öffentlichen Sittlichkeit sicherzustellen. Eben deshalb muss das staatliche
Gesetz für alle Mitglieder der Gesellschaft die Achtung einiger Grundrechte
sicherstellen, die dem Menschen als Person eigen sind und die jedes positive
Gesetz anerkennen und garantieren muss. Erstes und grundlegendes aller Rechte
ist das unverletzliche Recht auf Leben eines jeden unschuldigen Menschen.
Die Gesetze, die Abtreibung und Euthanasie zulassen und begünstigen, stellen
sich also nicht nur radikal gegen das Gut des Einzelnen, sondern auch gegen
das Gemeinwohl, und sind daher ganz und gar ohne glaubwürdige Rechtsgültigkeit.
Tatsächlich ist es die Nicht- Anerkennung des Rechtes auf Leben, die sich,
gerade weil sie zur Tötung des Menschen führt, in dessen Dienst zu
stehen die Gesellschaft ja den Grund ihres Bestehens hat, am frontalsten und
irreparabel der Möglichkeit einer Verwirklichung des Gemeinwohls entgegenstellt.
Abtreibung und Euthanasie sind also Verbrechen; diese für rechtmäßig
zu erklären, kann sich kein menschliches Gesetz anmaßen. Gesetze
dieser Art rufen nicht nur keine Verpflichtung für das Gewissen hervor,
sondern erheben vielmehr die schwere und klare Verpflichtung, sich ihnen mit
Hilfe des Einspruchs aus Gewissensgründen zu widersetzen. Seit den Anfangszeiten
der Kirche hat die Verkündigung der Apostel den Christen die Verpflichtung
zum Gehorsam gegenüber der rechtmäßig eingesetzten staatlichen
Autoritäten eingeschärft (vgl. Röm 13,1-7; 1 Petr 3,13-14), sie
aber gleichzeitig entschlossen ermahnt, dass man "Gott mehr gehorchen muss
als den Menschen" (Apg 5,29).
12. Die Verantwortung aller für eine neue Kultur des Lebens - was wir tun
können
Wir wollen ein Volk des Lebens (nicht des Todes), ein Volk des Lebens für
das Leben sein! Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der unsere Gesellschaft
sich an das Unrecht der Abtreibung gewöhnt hat, dürfen wir nicht in
lähmende Lethargie verfallen. Gegenüber den lebensfeindlichen Tendenzen
der modernen Kultur bedarf es geduldiger und hartnäckiger Überzeugungsarbeit.
Sie beginnt bei uns selbst und muss in unserer eigenen Umgebung Wege für
eine neue Einstellung gegenüber dem Leben aufzeigen. Es bedarf aber auch
konkreter Hilfen, damit das Recht, leben zu dürfen, kein Privileg der Kinder
ist, die von ihren Eltern gewollt sind. Auch diejenigen Kinder haben ein Recht
auf Leben, deren Eltern sich während der Schwangerschaft in einer schweren
Notlage oder vermeintlich ausweglosen Situation befinden.
Ich danke allen, die solche Hilfen bereits innerhalb und außerhalb unserer
Pfarrgemeinden anbieten. Ich danke den Müttern und Vätern erwachsener
Töchter und Söhne, die - nachdem sie ihre eigenen Kinder großgezogen
haben - nochmals die Last der Erziehungsverantwortung für die Enkelgeneration
mittragen, bis ihre Kinder zur eigenständigen Familiengründung kommen.
Ich danke allen, die in Kontakt mit jungen Menschen das Bewusstsein dafür
stärken, dass Sexualität und Liebe nur dann wirklich menschlich bleiben,
wenn sie mit der Bereitschaft verbunden sind, Verantwortung zu übernehmen
füreinander und für das gewollt oder ungewollt gezeugte Kind.
Ich danke den Ärzten, Schwestern und Pflegern, die sich für das Leben
einsetzen, ich danke den in unseren Beratungsstellen tätigen Beraterinnen
und Beratern, die vielen Rat suchenden Müttern und Familien zur Seite stehen
und sie in ihrem Willen zur Annahme des Kindes bestärken. Ihre Arbeit ist
ein wichtiger Dienst der Kirche am Leben der ungeborenen Kinder wie ihrer Mütter.
Sie bezeugen unsere Solidarität mit Frauen in komplexen, zunächst
ausweglos erscheinenden Lebenssituationen und unsere Bereitschaft, der Resignation
entgegenzuwirken.
Ganz besonders aber danke ich den jungen Frauen und Mädchen, die sich in
einer schwierigen Situation dem Ausweg des Tötens verweigerten und für
ein Leben mit ihrem Kind entschieden haben. Sie verdienen unser aller Respekt
und Hochachtung. Ebenso bezeuge ich unseren Respekt den allein erziehenden Müttern
und Vätern. Ihre Bereitschaft, unter hohen persönlichen Opfern für
ihr Kind einzustehen, kann zum ermutigenden Zeichen für andere werden.
Ich danke für die konkrete Hilfe durch Bereitstellung von Wohnmöglichkeiten,
durch die zeitweilige Kinderbetreuung in der Nachbarschaft, durch Mutter- Kind-
Gruppen oder durch andere Hilfen.
Als Kirche sehen wir uns verpflichtet, die kirchliche Beratungstätigkeit
nicht nur weiterzuführen, sondern sie nach Möglichkeit zu intensivieren.
Deswegen habe ich das "Forum Neues Leben" ins Dasein gerufen, um dem
Leben zu dienen. Ich hoffe, dass die Arbeitskreise, die sich mit öffentlichem
Bewusstsein, mit adäquater, qualitätsgesicherter Beratung, mit konkreter
Hilfeleistung, mit entsprechenden Finanzen, mit der Frage der Adoption beschäftigen,
viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden, nicht nur unter Christen und
Christinnen, sondern unter all jenen, denen das Leben, vor allem das ungeborene
menschliche Leben am Herzen liegt.
13. Für eine kinderfreundliche Kirche und Gesellschaft
Als Christen haben wir die Pflicht, kinderfeindliche Tendenzen aufzudecken und
dagegen anzugehen. Das können wir umso glaubwürdiger tun, je kinderfreundlicher
wir im eigenen Haus sind. Wir glauben, dass Gott uns in den Kindern begegnet.
Das bedeutet nicht, wir sollten sie vergöttern. Kinder sind weder kleine
Engel noch kleine Teufel, sondern kleine Menschen, denen wir Erwachsene das
Zeugnis christlichen Lebens schulden. Wir dürfen sie nicht um Gott betrügen.
Darum die Frage: Sind unsere Pfarrgemeinden Lebensorte für Kinder? Sind
Kinder dort wirklich willkommen oder sind sie für die eingefahrenen Kreise
der Erwachsenen Störenfriede? Es ist gut, dass es Kindergottesdienste gibt.
Ich danke allen, die dafür Verantwortung tragen, auch gerade den älteren
unter uns. Aber die Kinder sind durch die Taufe Glieder der Kirche und haben
ihren Platz im Gemeindegottesdienst zusammen mit den Geschwistern, den Eltern
und den Großeltern. Wer ihnen diesen Platz streitig machen will, verwirkt
seinen eigenen Platzanspruch.
Finden die Sorgen der Erzieherinnen und Erzieher, die Anliegen der Eltern in
der Pfarrgemeinde ein offenes Ohr, oder ist das alles nur Sache des Pfarrgemeinderates
oder des Pfarrkirchenrates? Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben sich
zumeist alle erdenkliche Mühe, die Kinder mit dem Glauben vertraut zu machen.
Es ist nur zu wünschen, dass die Eltern die Anregungen aufgreifen, damit
ihre Kinder nicht um Gott betrogen werden. Es gibt viele Eltern- Kind- Gruppen,
Gott sei Dank! Sind sie wirklich willkommen oder nur geduldet? Die Kirche und
die Gesellschaft wird auch daran zu messen sein, wie sie mit den ungeborenen
und den geborenen Kindern umgeht. Wir können unsere Zukunft nicht abtreiben,
wir müssen unsere Zukunft miteinander bauen! Zum Schluss möchte ich
mich noch an diejenige wenden, die die "Mutter des Lebens" genannt
werden kann: Maria, die Jungfrau und Mutter, war es, die "das Leben"
im Namen aller und zum Heil aller empfing. Sie steht also in engster persönlicher
Beziehung zum "Evangelium vom Leben". Die Zustimmung Mariens bei der
Verkündigung und ihre Mutterschaft stehen am Ursprung des Geheimnisses
des Lebens, das dem Menschen zu schenken Christus gekommen ist. Sie ist Mutter
jenes Lebens, von dem wir alle leben. Sie ist Vorbild für die Aufnahme
und die Pflege des Lebens. Sie möge unsere mütterliche Fürsprecherin
sein im Dienst am Leben. Seien Sie alle, liebe Brüder und Schwestern auf
dem Weg des Lebens, herzlich und dankbar gegrüßt. Gott, der Lebendige,
segne Sie, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
+ Dr. Alois Kothgasser, Erzbischof Salzburg, am Aschermittwoch 9. Februar 2005
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Quelle: Zeitschrift "Vision
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