Abtreibungsarzt tötet "falsches Kind"
Von P. Bernhard Speringer
ORC / Schweizerisch Katholisches Sonntagsblatt.

Kürzlich hat mir eine befreundete Redakteurin der
weltgrößten katholischen Internet-Agentur, "Catholic Online" (catholic.org)
einen Bericht aus den USA geschickt mit dem Kommentar: "How sick is this…? – Wie
krank ist das…?"
Dieser Artikel im Miami Herald vom 12.4.2010 berichtet folgendes:
Dr. Matthew J. Kachinas, ein Gynäkologe am Krankenhaus in Sarasota / Florida,
wurde gebeten eine Abtreibung vorzunehmen. Die Mutter war mit Zwillingen im
sechsten Monat schwanger, als man sich entschloss, einen der Zwillinge, ein
Bub mit Down-Syndrom, abzutreiben. Das gesunde Baby, ein Mädchen, sollte
drei Monate später geboren werden.
Dr. Kachinas wollte das behinderte Kind mit einer Spritze im Mutterleib töten
und machte dabei «den denkbar schlimmsten Fehler», wie es die Zeitung
wörtlich bezeichnete. Er hat die beiden Zwillinge vertauscht und hat «das
falsche Kind getötet – killed the wrong Baby».
Aufgrund dieses Fehlers, das falsche Kind zu töten, wurde Dr. Kachinas
bei der Sitzung des «Florida Board of Medicine» in Tampa / Florida,
eine Institution vergleichbar mit den Ärztekammern oder Gesundheitsministerien
im deutschsprachigen Raum, die Lizenz zu Praktizieren entzogen.
Ich wiederhole den Grund seiner Suspendierung: er hat das «falsche Kind» getötet…
Als ich diesen Bericht las, wurde ich zugleich wütend und zornig, empfand
aber auch einen tiefen Schmerz über die Blindheit und Dummheit der heutigen
Gesellschaft. Da wird ein Abtreibungsarzt an den Pranger gestellt, nicht etwa,
weil er Kinder im Mutterleib tötet, sondern, weil er das «falsche
Kind» getötet hat. Wie absurd und krank ist das?
Die Zeitschrift berichtet weiter, dass das behinderte Baby eine Woche später
durch eine Abtreibung «entfernt» wurde. Beide Kinder wurden übrigens
durch künstliche Befruchtung gezeugt.
Hier wurden zwei Kinder im Mutterleib getötet und das «Berichtenswerte» und «Herzzerreißende» an
dieser Story ist, dass der Arzt das «falsche Kind» getötet
hat. Man lässt sich darüber aus, wie verantwortungslos und fahrlässig
er damit gehandelt hat. Wenn er das «richtige Baby» getötet
hätte, wäre alles in Ordnung gewesen. Kein Zeitungsbericht, kein
Aufschrei in der Öffentlichkeit, keine Suspendierung des Arztes… Was
ist denn schon dabei, ein Baby im Mutterleib zu töten…
Das Paradoxe an diesem Bericht ist, dass wörtlich von der Tötung
bzw. Ermordung («killing») eines Babys die Rede ist, nicht etwa
davon, dass der Arzt den falschen Gewebeklumpen entfernt hat. Nein, der Arzt
hat ein Baby getötet – und zwar das falsche – und deswegen
sind die Medien und die Öffentlichkeit so entsetzt, dass man ihn suspendieren
musste.
In einem Online-Kommentar zu diesem Bericht hat jemand folgende Zeilen gepostet: «Ich
stehe voll und ganz hinter der Wahlfreiheit der Mutter. Sie hat das absolute
Recht mit ihrem Körper zu tun, was sie will. Die Ansammlung von Zellen
in ihr ist kein menschliches Leben, bis es nicht geboren ist und für die
Familie ein Grund zur Steuererleichterung ist. Trotzdem ist diese Geschichte
tragisch und einfach traurig, dass zuerst das falsche Kind sterben musste und
dann auch noch das kranke.»
Ein anderer Kommentar sagt: «Nachdem das Paar sicherlich monatelang die
verschiedensten Prozeduren zur künstlichen Befruchtung (in vitro) über
sich ergehen ließ, bei der schon an die etwa 100 Embryonen getötet
wurden oder starben, hatten sie nun endlich zwei Babys. Aber da eines nicht
so war „wie bestellt“, sollte es getötet werden. Ironie des
Schicksals, dass nun nach fast 100 Föten auch beide Babys tot sind – auf
Grund der Entscheidung der Eltern.“
Diese ganze tragische Geschichte mit all ihren Facetten zeigt dennoch etwas
auf: nämlich die Wahrheit. Und sowohl die berichtende Zeitschrift, als
auch die Öffentlichkeit als auch die Politik haben alle ungewollt die
Wahrheit ans Licht gebracht: Dass hier ein Kind getötet wurde.
Alles spricht vom «falschen Baby» aber unerwartet auch von «killing
a baby», vom «Töten eines Babys» und damit eben auch
von einem Baby, von einem Menschen. Selbst der Online-Poster sprach zuerst
von einer « Ansammlung von Zellen» und am Ende doch vom «falschen
Kind».
Ein Kind, ein menschliches Leben wurde getötet! Das ist die Wahrheit, um
die in diesem Fall nicht einmal die Liberalsten der Liberalen herumkommen oder
es vielleicht erst im Nachhinein gemerkt haben, dass sie in ihrem ersten Aufschrei
der Entrüstung ungewollt die Grundwahrheit bezeugt haben: Abtreibung ist
Mord!
Wir ernten, was wir gesät haben.
Man stellt sich unweigerlich die Frage: Ist unsere Gesellschaft am Ende? Sind
unsere Medien und unsere Politiker, ja sind wir selbst schon so blind, dass wir
nicht mehr Gut und Böse, Wahrheit und Irrtum, Leben und Tod unterscheiden
können? Sind wir denn völlig von Gott verlassen?
Nein! Gott hat nicht uns verlassen. Wir haben Gott verlassen. Die Gesellschaft
hat Gott aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Und das bedeutet letztlich,
den Schöpfer ausschließen.
Der berühmte russische Dichter und Schriftsteller Dostojewski hat gesagt: «Wenn
wir Gott ausschließen, dann ist alles erlaubt.» Und das sehen wir
heute nur zu gut: Es gibt keine Grenzen mehr, die man nicht überschreiten
darf: Euthanasie, Abtreibung, Massengenozide, Embryonen- und Stammzellenforschung,
Klonen, Genmanipulation usw...
Wir haben Gewalt gesät und Gewalt erzeugt immer mehr Gewalt – und
keiner ist mehr sicher, wenn das menschliche Leben nicht heilig ist. Die selige
Mutter Teresa bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt: „Wenn es einer Frau
erlaubt ist, ihr eigenes Kind im Mutterleib zu töten, was soll sie daran
hindern, auch dich oder mich zu töten? Was soll uns daran hindern, uns gegenseitig
mit Maschinengewehren umzubringen?»
Wenn das menschliche Leben nicht heilig ist, heilig von Beginn der Empfängnis
bis zum natürlichen Tod, dann ist niemand mehr sicher. Wenn man das Leben
nicht am Beginn und am Ende schützt, weshalb sollte man es in einer anderen
Phase schützen? Früher oder später wird vielleicht jemand sagen
und seine „Entscheidung“ rechtfertigen: «Dieses Leben ist
nicht mehr lebenswert…» oder: «Diese Person ist behindert
und eine Last...» oder :«Er hat nicht mehr die Lebensqualität…» oder: «Die
Krankenhauskosten sind zu hoch…»…
Wir sind inzwischen an einem Punkt angelangt, dass nur noch «nützliche» und «produktive» Menschen
etwas wert sind und solche, die uns keine Unbequemlichkeiten bereiten und keine
Last sind. Aber vergessen wir das Sprichwort nicht: «Wenn sie es MIT MIR
tun, werden sie es auch eines Tages AN MIR tun.»
Und Gott schaut zu…?
Das ist die Saat, die nun zur Ernte geworden ist. Viele werden sich fragen: Wenn
Gott uns nicht verlassen hat, wie kann er das alles zulassen? Wie kann er dem
(Ab)Treiben der Menschen zuschauen?
Gott ist zutiefst traurig über uns Menschen. Nur haben wir seit Jahren zu
Gott gesagt: «Du hast in unseren Schulen nichts verloren, du hast in Öffentlichkeit
und Politik nichts verloren, du hast in unseren Leben nichts verloren.» Der
bescheidene Gentleman, der Gott ist, hat sich vielleicht in aller Stille zurückgezogen.
Denn wie könnten wir erwarten, dass er uns seinen Segen und seinen Schutz
gibt, wenn wir zu ihm sagen: Lass uns in Ruhe!
Denken wir nur an die Ereignisse der letzten Jahre – Anschläge und
Schießereien in Schulen. Alles fing an, als Eltern vor Gericht zogen und
klagte, weil sie nicht wollten, dass Gebete in unseren Schulen gesprochen werden...
Dann sagte jemand, dass man an Schulen besser nicht die Bibel lesen solle und
nicht mehr Religion oder Katechese unterrichtet werden soll. Es genüge ein „Ethik-Unterricht“.
Es ist aber die Bibel, die sagt: du sollst nicht töten, du sollst nicht
stehlen, und: liebe deinen Nächsten wie dich selbst...
Dann sagt uns jemand: Lasst uns die Kreuze aus den Schulen entfernen, denn wir
brauchen Gott nicht. Dann sagt eine Familienministerin: Lasst uns Kondome verteilen – über
die Würde und Verantwortung in der Sexualität wird nicht gesprochen.
In einer Spaßgesellschaft zählt eben nur der Spaß – ohne
Verantwortung, ohne an die Konsequenzen zu denken und vor allem ohne an die Ewigkeit
zu denken. Dann sagt eine Landeshauptfrau: Lasst uns an unseren Krankenhäusern
Abtreibungen durchführen. Dann sagen höchste von uns gewählte
Organe, dass es doch unwichtig ist, was wir privat tun, welche moralischen Auffassungen
wir haben, solange wir unsere Jobs ordentlich machen.
Und jetzt fragen wir uns, warum unsere Kinder kein Gewissen haben, warum sie
nicht zwischen richtig und falsch unterscheiden können und weshalb es ihnen
egal ist, Fremde zu töten, ihre Schulkameraden, und sich selbst. Und alle
wundern sich, dass es bei den Kindern und Jugendlichen zu einem Sport geworden
ist, sich bis ins Koma zu betrinken. Es ist ganz einfach zu erklären: Wir
ernten, was wir säen.
Sonderbar, wie einfach die Leute Gott aus ihrem Leben verdammen und leben, als
ob es Gott nicht gäbe, als ob sie niemals Rechenschaft ablegen müssten
für all ihr Tun und sich dann wundern oder sogar Gott die Schuld geben,
dass es soviel Leid in der Welt gibt.
Sonderbar, wie einfach wir glauben, was in den Zeitungen steht, aber in Frage
stellen, was die Bibel sagt.
Sonderbar, wie rohe, vulgäre, geschmacklose und obszöne Artikel und
Bilder frei herumschwirren, dass aber eine öffentliche Diskussion über
Gott in Schulen und Arbeitsstätten unterdrückt wird.
Sonderbar, dass wir uns mehr Sorgen darüber machen, was andere Leute über
uns denken als über das, was Gott über uns denkt.
Diese «Gottvergessenheit» hat dann auch eine «Schöpfungsvergessenheit» zur
Folge, so dass man Ehe und Familie nicht mehr als Gemeinschaft von Mann und Frau
und als Gemeinschaft von Eltern und leiblichen Kindern versteht. Es ist leider
Wirklichkeit geworden, dass dort, wo die Weitergabe des Glaubens nicht mehr gelingt,
auch die Weitergabe des Lebens kaum noch geschieht. Das ist die Situation der
Gesellschaft, in der wir leben. Und diese Situation haben wir selbst zu verantworten,
nicht Gott!
Jesus schickt nicht Blitz und Hagel über Jerusalem, das ihn ablehnt, sondern
er weint. Nicht ohne uns seine tiefe Sehnsucht zu zeigen: «Wenn doch auch
du an diesem Tag erkannt hättest, was den Frieden bringt! Jetzt aber bleibt
es vor deinen Augen verborgen.» (Lk 19,42). Wie sehr wünscht sich
Jesus, dass wir erkennen, dass er unser Friede ist, er, der bei uns ist alle
Tage bis zum Ende der Welt (vgl. Mt 28,20), er, der sich finden lässt von
denen, die ihn aus ganzem Herzen suchen.
Gott ist weder Urheber des Bösen noch ist das Böse, seien es jetzt
Kriege, Katastrophen oder persönliche Schicksalsschläge Strafen Gottes.
Im Gegenteil. Gott hat ein Herz für uns und unsere Nöte und es schmerzt
ihn, wenn wir zu leiden haben und noch mehr, wenn wir anderen Leid zufügen.
Wir haben die Freiheit. Wir können uns für das Gute entscheiden – was
Gott freut – aber wir haben auch die Freiheit und für das Böse
zu entscheiden. Wir können uns auch gegen das Leben entscheiden – das
eigene oder das der anderen. Das schmerzt Gott, aber er respektiert unsere Freiheit
und lässt es zu.
Wir können und müssen viele Ungerechtigkeiten und viel Böses in
unserer Gesellschaft bekämpfen – durch Zivilcourage und Mut, die Wahrheit
zu sagen, durch konkrete Taten und durch Gebet und Sühne. Aber wenn wir
uns mit der wohl größten Sünde unserer Zeit – das Morden
von Kindern im Mutterleib – abfinden und nichts dagegen tun, bleibt vieles
andere fruchtlos. Wenn die Heiligkeit des Lebens nicht verteidigt wird, dann
kämpfen wir an anderen Fronten umsonst. Die Heiligkeit des Lebens ist Grundlage
für die ganze Menschheit. Es ist das Fundament für ein friedliches
Zusammenleben zwischen den Menschen. Würde ein Architekt den Bau eines Hauses
mit dem Dach beginnen? Nein. Zuerst kommt das Fundament: Der Mensch ist von Gott
erschaffen und das Leben ist heilig. Punkt. Ende.
Wann werden wir endlich aufwachen? Wann werden wir endlich verstehen: wenn wir
das Schwert gegen das Leben im Mutterleib richten, richten wir es gegen uns selbst.
Und das Blut, das an unseren Händen klebt, wird schließlich unser
eigenes sein.
Dieser Bericht ist als Leitartikel im Schweizerisch Katholischen Sonntagsblatt
8/2010 erschienen.
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