Symbolgeschichten
 

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Der verlängerte Tag

Besorgt meldeten die Engel dem Schöpfer der Welt, dass die Menschen fast ganz aufgehört hatten, zu beten. Daraufhin beschloss der himmlische Rat, die Ursachen dieses alarmierenden Zustandes durch eine Schar von Engeln untersuchen zu lassen. 
Diese berichteten folgendes: Die Menschen wissen um ihre mangelnden Gebete und beklagen das. Aber leider hätten sie trotz ihres guten Willens keine Zeit zum Beten. Im Himmel war man verblüfft und erleichtert in einem: Statt des befürchteten Abfalls handelt es sich also nur um ein Zeitproblem! 

Die himmlischen Räte überlegten hin und her, was zu tun sei. Einige meinten, man solle durch entsprechende Massnahmen das moderne, hektische Leben abschaffen - früher sei fast alles besser gewesen. Eine Gruppe schlug sogar eine Bestrafung des Menschengeschlechtes vor: "Das wird seine Wirkung tun", sagten sie und verwiesen auf die Sinnflut, grosse Erdbeben, Kriege, Pest und Aids. 
Das Ei des Kolumbus aber fand ein junger Engel: Gott sollte doch Verständnis für die Not des modernen Menschen zeigen und den Tag einfach verlängern! Trotz einiger Gegenstimmen wurde der Vorschlag vor Gott gebracht. Zur Überraschung aller schien dieser einverstanden zu sein. Denn er tat, was man wünschte und schuf eine 25.Tagesstunde. Im Himmel herrschte Freude: "So ist Gott eben", sagte man, "ER hat Verständnis für seine Geschöpfe!" 

Als man auf der Erde zu merken begann, dass der Tag nun eine Stunde länger dauerte, waren die Menschen verblüfft, und als sie den Grund erfuhren, von Dankbarkeit erfüllt. Erste Reaktionen waren vielversprechend: 
Es werde zwar einige Zeit dauern, so hörte man aus gut informierten Kreisen, bis die Anpassung vollzogen sei, aber dann werde sich alles einspielen. Nach einer gewissen Zeit vorsichtiger Zurückhaltung liessen die Bischöfe verlauten, es sei eine Wende zu erwarten, und die 25.Stunde werde als "Stunde Gottes" in das Leben der Menschen eingehen. 

Im Himmel allerdings wich die anfängliche Freude bald der Ernüchterung. Wider alle Erwartung kamen im Himmel nicht mehr Gebete an als bisher, und so sandte man wiederum Boten zur Erde. Diese berichteten: 
Die Geschäftsleute liessen sagen, die 25.Stunde für die man sich durchaus zu Dank verpflichtet sehe habe durch die Umstellung der Organisation Überstunden verursacht. Hierauf  pp ihm, die neue Stunde entsprechen
könne man vor allem in Hinblick auf die derzeitige Ertragslage der Wirtschaft nicht verzichten. Man bitte um Verständnis für diese Sachzwänge. Leider könne von einer Freigabe dieser so dringend nötigen Zusatzstunde vorläufig keine Rede sein, man bedaure sehr. 
Ein anderer Engel war bei der Gewerkschaft. Erstaunt, aber doch höflich wurde er angehört. Dann erklärte 
eigentlich einer längst überfälligen Forderung der Gewerkschaft. Im Interesse der Arbeitnehmer und der Arbeitsplatzsicherung in der Unterhaltungsindustrie müsse diese Stunde für die Erholung freigehalten werden. 

In den Kreisen der Intellektuellen wurde über die neue Stunde viel diskutiert. In einer Gesprächsrunde im Fernsehen wurde vor allem darauf hingewiesen, dass dem mündigen Menschen niemand vorschreiben könne, was er mit dieser Stunde zu tun habe. 
Die Idee der Bischöfe, sie als "Stunde Gottes" im Bewusstsein der Menschen zu verankern, müsse als autoritäre Bevormundung zurückgewiesen werden. Im übrigen sei die Untersuchung darüber, wie die neue Zeiteinheit entstanden sei, ohnehin noch nicht abgeschlossen. Naiv-religiöse Deutungen aber könnten dem modernen Menschen auf keinen Fall zugemutet werden. 
Dem Engel aber, der zu den kirchlichen Kreisen gesandt worden war, wurde mitgeteilt, dass man ohnehin bete. Der Eingriff des Himmels, so sagte man, dürfe auf jeden Fall nur als ein 'Angebot' verstanden werden, als ein Baustein der persönlichen Gewissensentscheidung. 
Einige gingen noch weiter und sagten, aus der Sicht der kirchlichen Basis sei die ganze Angelegenheit kritisch zu bewerten: Die Zweckbindung der 25.Stunde zugunsten des Gebetes sei eng und könnte auf gar keinen Fall "von oben" verfügt werden, d. h. ohne entsprechende Meinungsbildung "von unten". 

Manche Pfarrer betonten, wie dankbar sie für die zusätzliche Zeit seien,  deren sie dringend für ihre pastorale Arbeit bedürften, und ein Theologe liess ausrichten, er arbeite an einem Buch über das Gebet, und die neugeschaffene Stunde komme ihm sehr gelegen, um mit seiner Arbeit besser voranzukommen. 
Und so hatten eigentlich alle einen Grund, warum die dazugewonnene Tagesstunde nicht dem Gebet gewidmet werden könne. Die einen erhöhten ihre Arbeitsleistung, andere genossen das Mehr der Freizeit, wieder andere traten einem weiteren Verein bei oder besuchten Lehrgänge über Selbstverwirklichung, Gesprächsführung und neue Meditationstechniken. 
Ja, es wurden sogar pädagogische, soziologische, "ökonomische, psychologische und theologische Bücher über die "Bedeutung der 25.Tagesstunde" verfaßt, denen dann wissenschaftliche Kongresse folgten. Kirchliche Bildungshäuser boten Kurse über verschiedene Gebetstechniken an, und die Teilnehmer diskutierten oft nächtelang. 

Einige Engel kamen zurück und wußten nicht, wie sie ihre Beobachtungen bewerten sollten. Sie berichteten nämlich von Menschen, die geschenkte Zeit wie jede andere Stunde ihres Lebens aus den Händen Gottes annahmen: Für ihr Aufgaben, für den Dienst an den Mitmenschen, für die Teilnahme an der heiligen Messe und für das Gebet, für das sie jetzt noch leichter Zeit fanden als bisher. 
Darüber waren die Engel freilich auch verwundert: Diejenigen, die die 25. Stunde tatsächlich in den Dienst Gottes stellten, waren dieselben, die schon bisher genügend Zeit für Gebet und Gottesdienst hatten. 

So erkannte der himmlische Rat: das Gebet ist eine Frage der Liebe. Zusätzliche Zeit allein bringt keinen Beter hervor. Diejenigen, die nicht beten wollen, werden auch mit einem längeren Tag "keine Zeit" zum Beten finden. Zeit haben immer nur die Liebenden! 
Daraufhin wurde beschlossen, Gott zu bitten, die 25.Stunde wieder abzuschaffen und auch die Erinnerung daran aus den Köpfen der Menschen zu löschen. Und so geschah es.